Volksentscheid zu „Stuttgart 21“ beim Staatsgerichtshof angefochten

Seit 16.01.2012 ist beim baden-württembergischen Staatsgerichtshof eine Volksentscheidsanfechtung anhängig. Ziel des Antrags ist es, den Volksentscheid für ungültig zu erklären, hilfsweise ihn unter rechtmäßigen Bedingungen zu wiederholen.

Es werden im Wesentlichen folgende Anfechtungsgründe geltend gemacht:

1. Der Volksentscheid verstieß gegen das Grundgesetz, weil dem Land Baden-Württemberg die Kompetenz für den Bereich der Schienenwege fehlt. Die entsprechenden Kompetenzen liegen nach Art. 73 Nr. 6a GG, 87 e I 1 GG eindeutig beim Bund. Es verstößt zudem auch gegen die Abstimmungsfreiheit des Art. 26 IV LV, wenn dem Bürger - sinngemäß - die Frage zur Abstimmung vorgelegt wird, "Wollen Sie, dass ein grundgesetzwidriges Gesetz in Kraft tritt?"

2. Die Briefabstimmungsunterlagen wurden von der Landesregierung versehentlich deutlich früher verschickt als die amtliche Abstimmungsinformation zum Volksentscheid. Da die Zahl derjenigen, die mittels Abstimmung per Brief von ihrem Stimmrecht Gebrauch gemacht haben, äußerst hoch war, ist dieser Abstimmungsfehler auch ergebnisrelevant, zumindest kann Letzteres aber nicht ausgeschlossen werden. Es ist unzulässig, dass ein Teil der Abstimmenden ohne, die Mehrheit der Abstimmenden aber mit der Abstimmungsinformation vom Stimmrecht Gebrauch gemacht hat. Entweder muss eine Abstimmungsinformation vor der Möglichkeit der Stimmabgabe sämtlichen Stimmberechtigten vorliegen oder gar keinen. Dass der Wissenstand über den Abstimmungsgegenstand bei den Abstimmenden völlig unterschiedlich war, ist juristisch nicht zu rechtfertigen.

3. Es erscheint auch zweifelhaft, ob das "Erdrosselungsquorum" von einem Drittel der Stimmberechtigten überhaupt mit dem grundgesetzlichen vorgegebenen Gebot der Stimmrechtsgleichheit vereinbar ist. Beim Volksentscheid über "Stuttgart 21" hatte eine Nein-Stimme mehr als das doppelte Gewicht als eine Ja-Stimme. Der Grundsatz der Stimmrechtsgleichheit als elementarer Teil des Demokratieprinzips ist nach der Rechtsprechung des Bun- desverfassungsgerichts Teil der sog. "Ewigkeitsklausel" des Art. 79 III GG. Ein Verstoß hiergegen hätte die Nichtigkeit des Art. 60 V 2 der baden-württembergischen Landesverfassung zur Folge.

4. Ein Verstoß gegen das Sachlichkeitsgebot für staatliche Stellen bestand darin, dass der Stuttgarter Oberbürgermeister in amtlicher Funktion kurz vor dem Volksentscheid in einem extrem parteiischen Brief für das Bahnprojekt Stuttgart 21 Stellung genommen hat. Dieser Brief wurde an alle Stuttgarter Haushalte auf Kosten des Steuerzahlers verschickt und erfüllte die Anforderungen an eine sachliche Stellungnahme auch nicht im Ansatz.

Es ist anzunehmen, dass der Staatsgerichtshof noch in diesem Jahr eine mündliche Verhandlung anberaumen wird.

Der Antrag ist der erste Antrag in der Geschichte Baden-Württembergs, mit dem beim Staatsgerichtshof eine Volksabstimmung für ungültig erklärt werden soll. Die grundsätzliche Bedeutung des Verfahrens liegt insbesondere darin, den Prüfungsumfang im Anfechtungsverfahren nach § 21 IV VAbstG durch den Staatsgerichtshof klären zu lassen, ferner auch darin, die Grenzen des Sachlichkeitsgebots für staatliche Stellen im Vorfeld von Volksabstimmungen richtlich klären zu lassen.

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17 Antworten zu Volksentscheid zu „Stuttgart 21“ beim Staatsgerichtshof angefochten

  1. Heidrun Ritter sagt:

    … noch in diesem Jahr…..

  2. stefan notter sagt:

    wir können alles außer VA…

  3. Claudia sagt:

    Nr.1.- 4 sind Volltreffer: Bund, Land, Bahn, Quorum, OB, alles drin!
    Ich drücke die Daumen und hoffe, dass wir nicht lange auf das Ergebnis warten müssen.

  4. Wonko sagt:

    Kann man das näher erläutern? Punkt 4 ist klar und hat meine volle Unterstützung. Ich zweifle allerdings, ob dies zur Ungültigkeit der Abstimmung ausreicht. Mir ist allerdings bspw. nicht klar, inwiefern (Punkt 3) durch das Quorum eine Nein-Stimme das doppelte Gewicht wie eine Ja-Stimme haben soll. Bei Punkt 2 ist zwar offenbar wirklich ein Fehler passiert, aber ich kann mir kaum vorstellen, dass er zur Ungültigkeit der Abstimmung führt. (Interessant wäre, ob man den Anteil der zu früh eingegangenen Briefabstimmungen ermitteln kann.) Punkt 1 verstehe ich ehrlich gesagt nicht. Welches Gesetz wird als grundgesetzwidrig angesehen? Das Ausstiegsgesetz? Dann ist die Formulierung falsch. Die Finanzierung an sich? Dies könnte die Abstimmung höchstens überflüssig machen. In Bezug auf die Finanzierung sind leider nur wenige klageberechtigt. Ich fände es allerdings sehr spannend, was dann passieren würde. Es kann ja nicht das Problem der Bahn sein, wenn Bund Land und Stadt Verträge abschließen, die sie nicht dürften. Es ist aber auch zweifelhaft, dass der Bund dann plötzlich den Stadt- und Landesanteil übernimmt. Es gibt jedenfalls sicher Lösungen mit weniger Schadensersatzansprüchen der Bahn. Vielleicht sogar im Schadensersatzansprüchen gegen die Bahn.

  5. Reini sagt:

    Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus…Pack schlägt sich, Pack verträgt sich….nur um mal zwei Gründe zu nennen warum das keinen Erfolg haben wird.
    Doch es ist ein richtiges Zeichen! Wir müssen die rechtlichen Mittel ausschöpfen!
    Wir sollten nicht zu sehr nach der Vergangenheit schielen, sondern auf die Zukunft schauen!
    Wir sollten die Verträge von S21 auf SITTENWIDRIGKEIT verklagen!

    Hier stimmt doch überhaupt NICHTS!
    Weder stimmen die Kosten, noch dass der Tiefbahnhof eine höhere Leistung hat, als der Kopfbahnhof!
    Beweise gibt es doch genug….wir müssen „nur“ die Anzeigen formulieren!
    Vielleicht sollten wir Hunderte Anzeigen aufgeben, damit es dem Staatsanwalt nicht langweilig wird!?

    Zu klären wäre, WELCHE Anzeigen der Bürger, und welche Anzeigen nur die Regierung machen kann, oder darf.

  6. sam.boskop sagt:

    bis zum abschluß des verfahrens gibt es keinen ob schuster mehr. gott sei dank.

  7. Heike sagt:

    Weitere Bürger haben eigene Anfechtungen beim Staatsgerichtshof eingereicht, wieviele weiß ich nicht.

  8. daMax sagt:

    Ich stimme Reini (4) zu. ALLES an S21 ist faul, warum sollte da so ein Antrag irgend etwas bewirken? Aber bitte, macht halt. Seid bloß nicht allzu traurig, wenn auch das wieder ausgeht wie das Hornberger Schießen.

  9. Tichodroma sagt:

    Bei all den im Zusammenhang mit S 21 aufgeworfenen juristischen Fragen erstaunt mich, wie die GRÜNEN aufgefordert werden, z. B. gegen die Mischfinanzierung zu klagen. Die GRÜNEN sind weder als Partei noch als Landtagsfraktion in dieser Sache klageberechtigt. Klagen kann hier allein die Landesregierung. Bekanntlich wird diese aber von einer Koalition aus GRÜNEN und SPD getragen, in der in der Sache S 21 keine Einigkeit herrscht. Da die SPD eine Klage gegen die Mischfinanzierung sicher nicht unterstützen wird, ist die entsprechende Aufforderung an die GRÜNEN sinnlos. Wo kein Kläger, da kein Richter und auch kein Urteil.

    Im Übrigen wurden die GRÜNEN nicht nur für die Verhinderung von S 21 gewählt. Mich in der Region Nordschwarzwald interessiert und betrifft z. B. die Einrichtung eines Nationalparks mehr. Ich habe die GRÜNEN gewählt und ich will, dass sie an der Regierung bleiben, auch wenn S 21 leider nicht verhindert werden kann.

  10. Petra A sagt:

    Siehe dazu auch die HEUTE, 17.1.12 um 17:30Uhr eingegangene dpa Meldung:
    16 Verfahren gegen Volksabstimmung zu Stuttgart 21

  11. Pingback: S21 Facepalm Alarm == Resthirnverbrennung! - Unixhaus

  12. Ingo Neitzke sagt:

    An die rhetorischen Frager a la ‚Was soll das bringen?‘:

    Diesen demoralisierenden Pessimismus kann ich nicht nachvollziehen. Ich halte den Rechtsweg für den einzigen, welcher die Bahn und ihren Filz noch juckt und stoppen kann.
    Viel naheliegender wäre die Frage: Was soll es noch bringen, sich mit Plakaten auf die Straße zu stellen oder zu setzen oder Protestbriefe zu schreiben?
    Für diesbezügliche Wirkung müsste die Bahn ein Gewissen haben. Hat sie nicht. Die versteht nur noch die Sprache der Aktenzeichen.

  13. Markus Hassold sagt:

    Eine der 16 Antragsschriften (meine), könnt ihr hier nachlesen:

    http://freepdfhosting.com/4df7635101.pdf

  14. Wir löschen nur beleidigende Kommentare. Bei offensichtlichen Trollkommentaren behalten wir uns das Löschen vor. Generell wollen wir aber den Meinungsaustausch fördern und sind daher sehr großzügig beim Freischalten der Kommentare. Diese Linie hat die BAA-Redaktion erst neulich bei einem Treffen wieder bestätigt.

  15. Alex sagt:

    Wäre auch geklagt worden, wäre der Volksentscheid zu Gunsten ausgegangen? Ich weiß nicht wozu das führen soll. Das Volk hat demokratisch entschieden und diese Entscheidung ist eben zu akzeptieren.

  16. Petra A sagt:

    Landesregierung bestätigt die viel zu späte Versendung der Briefabstimmungsunterlagen – Erklärung völlig unhaltbar, siehe HIER

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