Bericht aus dem Gerichtssaal – Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte

Gerichtsverhandlungen waren für mich bis vor Kurzem eine fremde, unheimliche und abschreckende Sache. „Im Namen des Volkes …“ - das klang so bombastisch, dass ich nie etwas mit Gerichten zu tun haben wollte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass „das ganze deutsche Volk“ mich verurteilt oder freispricht. Dass ich mal nur zum Zuschauen zu einem Prozess gehen würde, darauf wär´ ich im Lebtag nicht gekommen. Die Zeiten ändern sich!
Inzwischen ist der solidarische Besuch von Gerichtsverhandlungen über S21-Gegner zum Muss und zur Normalität geworden. Denn man lernt nie aus. Ich lerne so viel, dass ich nur staunen kann, mit welch einer juristischen Naivität ich bisher durchs Leben gegangen bin. Nicht nur, dass ich unwissend war in Bezug auf Verordnungen der Stadt Stuttgart und das Demonstrations- bzw. Versammlungsrecht, nein, ich habe schnell gelernt, dass Aussagen von Polizisten doppelt so viel gelten wie die von Beschuldigten (erinnert mich an die Scharia, wo die Aussage einer Frau halb so viel wert ist wie die eines Mannes), dass Beweis-Videos just in dem Moment abbrechen, wo es spannend wird und den Beschuldigten entlasten könnten und überhaupt ... „Man sieht sich im Recht, ist es aber nicht!“ – wie eine Richterin kürzlich sagte. Dies alles als Vorspann zu einem Bericht über die gestrige Gerichtsverhandlung am Amtsgericht, von 13:30 bis 16:20.
Es war ein Verfahren über den S21-Gegner A., der sich am 13. Januar 2012 bei der Räumung des Platzes vor dem Südflügel von Polizisten hatte wegtragen lassen. Der Strafbefehl war über 30 Tagessätze à 60 Euro ergangen, mit der Anschuldigung von „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“. Unter großer Solidarität von K21-Befürwortern begann der Prozess, in dem A. gleich zu Anfang erklärte, dass er den Widerspruch nicht zur Vermeidung von Strafe eingelegt habe, sondern dass er diesen Prozess als politisches Verfahren ansehe und seinen Widerstand gegen S21 dokumentieren soll. Der ehemalige Heidelberger Arzt i.R. hatte eine Verteidigerin an seiner Seite, OSA Häussler gegenüber und als Justizia mit der Waage eine Richterin. Als Zeugen waren vier junge, kräftige Polizeibeamte und zwei weitere Sitzblockierer geladen.
A. führte zunächst aus, worauf sein Engagement für den Stuttgarter Bahnhof beruht, dass nämlich Projekt-Entscheidungen nicht sorgfältig vorbereitet und mit vorgeschobenen Argumenten die Ziele verschleiert worden waren. Andere Argumente waren die Leistungsfähigkeit von S21, die Manipulation des Stresstests, die Personenstromanalyse, die Finanzverträge und die Mischfinanzierung. Seine Motivation für den Widerstand gegen S21 sei die Verantwortung des Einzelnen, darauf zu achten, dass alles nach Regeln und Recht abläuft.
Der Sachverhalt zur Auflösung der Blockade vor dem ehemaligen Südflügel am 13. Januar war unstrittig: Vier Blockierer – darunter auch der Angeklagte - hatten sich untergehakt und wurden nach Trennung durch die Polizisten einzeln weggetragen zur Aufnahme der Personalien. In der Verhandlung ging es nun um die Art und Weise, wie die ineinander verhakten Hände der Blockierer gelöst und wie der Beschuldigte anschließend getragen wurde. Dass mit etwas Kraftaufwand die Finger auseinander gezogen wurden, konnte in einem Polizeivideo dokumentiert werden, wobei es schon seltsam anmutet, dass ein gestandener Polizeibeamter nicht in der Lage ist, ein paar verhakte Finger zu lösen und dass darin schon ein Akt des Widerstands gesehen wird. Kooperativ wäre es gewesen - so die Anklage -, hätte man die Hände gleich nach Aufforderung auseinander genommen, also gehorcht.
Im Folgenden gab es dann Aussagen von vier Polizisten, die schilderten, wie der Angeklagte sich hatte tragen lassen, dass er nicht kooperiert habe, sondern sich entweder als „toter Mann“ gestellt habe oder aber gestreckt und gewunden und dass ein Bein gezappelt habe. Gern hätte man im Gerichtssaal anhand von Puppen oder Freiwilligen dieses Tragen naturidentisch nachgestellt gesehen, doch so etwas ist nicht üblich. Also musste die Art des Tragens viermal sprachlich erklärt werden, was geraume Zeit in Anspruch nahm.
Der Beschuldigte hingegen gab an, sich weder bewegt noch Widerstand geleistet zu haben, sondern dass er sich ganz ruhig habe tragen lassen. Er sei absichtlich entspannt gewesen „Sie können es mit einem Bewusstlosen vergleichen, wenn Sie wollen.“ Auch die beiden Zeugen des Angeklagten, die die Situation beobachtet hatten, gaben an, dass er sich nicht bewegt habe, sondern „blass und mit geschossenen Augen, als sei ihm schlecht, wie apathisch“ zwischen den Polizisten hing.
So stand also Aussage gegen Aussage und da das Polizeivideo leider in dem Moment abbrach, wo der Angeklagte weggetragen wurde, konnte nichts bewiesen werden. Es kam zu einem kurzen Disput zwischen der Anwältin und OSA Häussler, als sie sagte „Immer, wenn es interessant wird, gibt es kein Video.“ Dies wies der OSA als Pauschalierung zurück.
In seiner Anklage führte Häussler aus, dass es nicht zu einer Gewalttätigkeit gekommen und A. nicht gegen Polizisten aktiv tätig geworden sei, sondern sich nur widersetzt habe. Dass sich der Angeklagte trotz Aufforderungen der Polizei beim Blockieren nicht von der Stelle bewegt habe, sei eventuell eine Ordnungswidrigkeit, aber nicht strafbar. Sich beim Wegtragenlassen bewusstlos zu stellen, sei passives Tun und auch keine Gewalt. Auch das Unterhaken sei keine Gewalt, sondern aus dem Gemeinschaftsgefühl geboren. Wenn allerdings die Hände so fest zusammengehakt sind, dass die Polizei sie mühsam lösen muss und Kraftaufwand nötig ist, dann wird aus dem passiven Tun des Beschuldigten ein aktives. Jetzt könne man von Gewalt sprechen. Denn die Polizei werde gezwungen, Gewalt anzuwenden. Wenn man sich so verhält, dass die Polizei Kraft aufwendet beim Lösen der Finger, um dann den Blockierer wegzutragen, begebe man sich in den strafbaren Bereich. So viel zum „Fingerhakeln“. Was das Tragen angeht, so wird noch akzeptiert, dass sich der Blockierer schwer macht, dies gehöre zum passiven Widerstand. Wenn er sich aber windet, anspannt und entspannt im Wechsel, wie die Polizisten ausgesagt hatten, so komme man wieder in den Bereich des aktiven Widerstands. Die Zuwiderhandlung sei so heftig gewesen, dass vier Beamte dazu nötig gewesen seien, den Angeklagten zum Ermittlungszelt zu bringen. Deshalb beantragte der OSA eine Strafe nach § 113 Strafgesetzbuch wegen „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“ (Absatz 1: "Wer einem Amtsträger oder Soldaten der Bundeswehr, der zur Vollstreckung von Gesetzen, Rechtsverordnungen, Urteilen, Gerichtsbeschlüssen oder Verfügungen berufen ist, bei der Vornahme einer solchen Diensthandlung mit Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt Widerstand leistet oder ihn dabei tätlich angreift, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft"). Seine Abschlussworte zeigten auch die Intention des OSA: „30 Tagessätze sind nicht zu viel, denn es gibt die Notwendigkeit, anderen Leuten zu zeigen, dass es nicht richtig ist, sich gegen Polizeibeamte zur Wehr zu setzen.“
Die Anwältin betonte in ihrem Plädoyer das Grundproblem bei S21-Prozessen, dass nämlich die Schwelle zur Kriminalisierung von Beschuldigten extrem niedrig sei. Sie führte die Tätigkeit des Angeklagten an, der viele Jahre politisch und als Stadtrat aktiv gewesen ist. Sie betonte die unterschiedliche Wahrnehmung von Zeugen und dass auf dem Video zu sehen gewesen sei, dass die Polizisten beim Lösen der Finger keine übermäßige Gewalt aufwenden mussten. Dass der Angeklagte bei seinem Wegtragen nicht mitgeholfen habe, werde leider von der Polizei als Provokation angesehen. „Mein Mandant hat sich aber bewusst gegen Gewalt entschieden“. Die Staatsanwaltschaft benutze nun die Keule des Gewaltvorwurfs. Wenn auch der kurze Akt des Fingerlösens und Wegtragens für die Polizisten anstrengend war, so könne man nicht sagen, dass jeder Aufwand, den die Polizei betreibt, Gewalt sei, um damit dem Angeklagten vorzuwerfen, er habe durch sein widerständiges Verhalten Gewalt provoziert. (Anmerkung: Sie hätte auch sagen können: Das gehört nun mal zum Polizeiberuf, Blockierer aus einer Kette zu lösen und sie wegzutragen. Und nicht jeder Körper lässt sich tragegerecht zusammenfalten.) Das bloße passive Verhalten ist keine strafbare Handlung. „Jeder Schmetterling wird abgelichtet, dieses Wegtragen nicht. Warum wurde das Video abgebrochen?“ Diese Frage stand im Raum. Die Schwelle zur Gewalt sehe sie nicht und plädiere auf Freispruch.
Der Angeklagte A. blieb in seinem Schlusswort bei seiner Darstellung und fand es blamabel, wenn zwei junge Männer, die Polizisten, nicht in der Lage seien, einen 70-Jährigen wegzutragen.
Nach einer kurzen Pause verlas die Richterin das Urteil im Namen des Volkes: "Der Angeklagte ist schuldig des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte." Er bekam eine Strafe von 20 Tagessätzen á 80 Euro. So kommt unterm Strich das Gleiche raus. Das Urteil wurde mit dem Terminus der Gewalt begründet, wie ihn das Gesetz festlegt. Dies sei weder für den Normalbürger noch für Juristen immer nachvollziehbar, dazu müsse man lange studieren, meinte die Richterin. Um Gewalt auszuüben, brauche man keine aktive Gewalttätigkeit. Das Gesetz besage, dass es ausreiche, eine Diensthandlung durch tätiges Handeln zu erschweren. Untätiger Widerstand (körperlich schwer machen) reiche zwar nicht für den Gewaltbegriff aus, aber wenn man der Polizei darüber hinausgehende Schwierigkeiten bereite, dann sei es Widerstand im Sinne von § 113 StGB. „Mehrfach musste der Polizist Ihre Finger aufdrücken. Das ist ein nicht unerheblicher Kraftaufwand, das ist Widerstand.“ An den Aussagen der Beamten habe sie keine Zweifel. Auch wenn die Gewaltanwendung am unteren Ende der Möglichkeiten war, so war der Widerstand doch strafbar.
Der Angeklagte nahm´s mit Contenance. Die Zuschauer schüttelten ihre Köpfe und diskutierten noch lange danach.

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