Rede von Siegfried Bassler bei der 147. Montagsdemo

Rede von Siegfried Bassler, ehemaliger SPD-Stadtrat und Fraktionsvorsitzender, auf der 147. Montagsdemo am 5.11.2012

Liebe Demonstranten, liebe Combattanten, liebe Sympathisanten des Kopfbahnhofs!
Ich muss euch heute etwas über die SPD in Stuttgart erzählen, meine Partei seit 53 Jahren: Am 7. Oktober erhielt Bettina Wilhelm, die Kandidatin der SPD für die OB-Wahl, 15% der Stimmen. Daraufhin hat sie das Handtuch geworfen, konsequenterweise. Die Stuttgarter SPD war nicht in der Lage, einen Kandidaten aus den eigenen Reihen aufzustellen. Sie hat niemand mehr, der über die Grenzen von Untertürkheim hinaus bekannt wäre. Sie ist personell total ausgelaugt. Keine Leitfigur nirgends! Keine Persönlichkeit mag sich mehr zu diesem desolaten Haufen bekennen. Die Abwärtsbewegung hat schon vor Jahren begonnen, aber die Talsohle ist noch nicht erreicht ...

Einst war Kurt Schumacher Kreisvorsitzender in Stuttgart, zuletzt bis 2011 Andreas Reißig. Ein langer Weg der schleichenden Auszehrung, intellektuell und personell. Die Folgen sind bekannt: Bei den letzten fünf Wahlen zum Gemeinderat, zum Bundestag, zu Europa, zum Landtag und zuletzt bei der OB-Wahl hat die Stuttgarter SPD jeweils das schlechteste Ergebnis aller Zeiten errungen. Im Gemeinderat ist sie auf zehn Sitze abgestürzt, im Bundestag hat sie kein Direktmandat mehr, im Landtag überhaupt kein Mandat und jetzt ist ihre Kandidatin mangels Zustimmung vorzeitig ausgeschieden.

Warum wohl? Die Obergenossen im Landtag und Gemeinderat können es sich nicht erklären. Schmid und Schmiedel, Blind und Kanzleiter sind vollständig ratlos. Sie fassen sich an den Kopf und greifen ins Leere. Stuttgart sei ein Sonderfall, so die Generalsekretärin Mast. Allerdings. Ein Sonderfall an Realitätsblindheit. S21 sei kein Thema mehr, behaupten die Großkopfeten, es gäbe Wichtigeres. Nächstes Jahr ist Bundestagswahl, in zwei Jahren Gemeinderatswahl, neue Tiefenrekorde drohen. Unsere Anführer sind verblendet. Sie haben den Kontakt zu den Wählern schon lange verloren. Mit den Kritikern in der eigenen Partei setzen sie sich nicht mehr auseinander. Briefe an die Fraktion, an den Landesvorsitzenden werden nicht beantwortet. Es ist wie damals bei Mappus. Wir werden einfach ignoriert. Was jeder sieht, sie wollen es nicht sehen. Augen zu und ins nächste Loch gestolpert, das große Loch des Tiefbahnhofs.

Viele von uns innerparteilichen Kritikern haben seit Jahren einen Mitgliederentscheid zu S21 gefordert. Nichts ist geschehen. Nils Schmid, der gerne von mehr innerparteilicher Demokratie spricht, stellt sich taub, blind und quer. Er gefällt sich in der Rolle des Tony Blair der hiesigen SPD. Das soziale Profil wird abgeschliffen. Tausende Sozialwohnungen der Landesbank mit den Stimmen von Schmid und Schmiedel an einen Immobilien-Spekulanten verscherbelt.
Manche mögen ja vor 15, 20 Jahren geglaubt haben, S21 sei ein zukunftsweisendes Projekt, geblendet von der Fata Morgana Europäische Magistrale. Ihre Technikgläubigkeit sei ihnen verziehen. Aber spätestens nach all den Schummeleien, Auskunftsverweigerungen und Lügen der Bahn ist jegliches Vertrauen verspielt. Wer Grube und Kefer heute noch glaubt, an dessen Intelligenz muss man zweifeln. Und jetzt, nach dem Brandschutz-Skandal, bekommt das Projekt auch noch einen moralischen Aspekt: Bauen auf Teufel komm raus, auch wenn Menschenleben auf dem Spiel stehen. Das ist verwerflich, unverantwortlich.

Am 26. Oktober letzten Jahres, bei einer Veranstaltung von Gangolf Stocker hier auf dem Marktplatz, habe ich Nils Schmid gefragt, ob er glaube, dass die von der Bahn errechneten Kosten ausreichten. Ja, sagte er, er vertraue der Bahn. Das wäre nun wirklich das allererste Groß-Projekt der Weltgeschichte, das nicht wesentlich teurer würde als vorausgesagt. Inzwischen hat sich ja erwiesen, dass der Kostendeckel bereits gesprengt ist. Aber Nils Schmid, der Finanzminister dieses Landes, hat es noch nicht zur Kenntnis genommen.

Und nun zum Gestattungsvertrag für die Abholzung der Bäume im Rosensteinpark. Jetzt könnte Schmid beweisen, dass er etwas gelernt hat aus der Vergangenheit. Im Schlosspark hat sich ja bis heute nichts getan, obwohl schon lange alles platt gemacht wurde. Man wollte vollendete Tatsachen schaffen, Unumkehrbarkeit, wie sie sagen. Wüste! Damit die Leute sagen: So kann es nicht bleiben.

Genosse Schmid, unterschreiben Sie den Gestattungsvertrag nicht, bis alle Fragen geklärt sind! Ich fürchte, dass wer keinerlei Gespür hat für die Sorgen der Projektgegner, wer die uralte Forderung der SPD für bezahlbaren Wohnraum leichtfertig vergibt, von dem ist leider auch nicht zu erwarten, dass er als Finanzminister den Gestattungsvertrag für die Abholzung weiterer uralter Bäume im Rosensteinpark verweigert. Die Natur steht seinem Begriff von Fortschritt im Wege. Also weg damit! Mit den Bäumen fallen aber auch die Zukunftschancen der Stuttgarter SPD weiter ins Bodenlose.
Schmiedel greift den designierten OB Fritz Kuhn an, weil er bei Überschreitung des Kostendeckels einen Volksentscheid durchführen will und weiß nicht einmal, dass der Stuttgarter Gemeinderat ebendies 2009 mit großer Mehrheit beschlossen hat.

Ich bin seit 1959 Mitglied der SPD, damals aus Protest gegen Adenauer eingetreten, um die Opposition zu stärken, war 15 Jahre im Gemeinderat, Fraktionsvorsitzender, als die SPD noch 27 Sitze hatte, 14 Jahre Bezirksvorsteher von Stuttgart-Süd. Ich kenne Stuttgart, meine Geburtsstadt, ein bisschen und stelle fest: So zerrissen war die Stadt noch nie. Auch die SPD nicht. Es gibt sehr viele Genossen, die mit der Politik von Schmid, Schmiedel und Blind nicht einverstanden sind. Viele sind deshalb schon ausgetreten. Umso nötiger wäre es, auf die Kritiker zuzugehen. Das geschieht aber nicht.

Reißig, der Sprecher des Landesvorstands, empfiehlt Peter Conradi, dem aufrechten SPD-Kämpfer gegen S21, aus der Partei auszutreten, dann sei das Problem der Stuttgarter SPD gelöst. Man schämt sich, dass solche Leute, die ihre Karriere der SPD verdanken, in der Partei von Kurt Schumacher und Willy Brand das große Wort führen dürfen ... Es gibt im Land eine Initiative „SPD-Mitglieder gegen Stuttgart 21“, die im Aktionsbündnis gegen S21 mitkämpft. Im Land hat sie 741, in Stuttgart 111 Mitglieder. Wir treten denen da oben dauernd auf die Füße in der Hoffnung, dass sie zur Besinnung kommen. Ich werde nicht austreten. Ich will ein Pfahl im Fleisch der Partei bleiben, die sich so wenig um die Sorgen der Bürger kümmert. Der Kanzleiter nennt mich einen „versprengten Einzelkämpfer“. Er muss aufpassen, dass er nicht bald der letzte Mohikaner der SPD im Gemeinderat ist.

Wir SPD-Mitglieder gegen S21 werden uns mit der verheerenden Politik der Landtags- und der Gemeinderatsfraktion nicht abfinden. Ich möchte nicht, dass nach der nächsten GR-Wahl in der Zeitung steht: „SPD deutlich über 5%!“ Wenn die hiesige SPD nicht zur Einsicht kommt, werde ich, trotz meines biblischen Alters, bei der nächsten GR-Wahl noch einmal kandidieren, wenn nicht auf der SPD-Liste, dann halt anderswo, am liebsten auf einer Liste „SPD-Mitglieder für den Kopfbahnhof“.

Ich habe im Stuttgarter Gemeinderat alle drei Oberbürgermeister, die nach dem Krieg hier regiert haben, überlebt: Arnulf Klett, Manfred Rommel und sogar Wolfgang Schuster. Ich würde es auch mit Fritz Kuhn noch einmal probieren. Er braucht Unterstützung und Kritik, um den Stadt-Kaputtmachern Paroli zu bieten. Dazu müssen viele bereit sein, vor allem auch SPD-Mitglieder. Wir müssen wieder Vertrauen aufbauen. „Vertrauen kommt als Schnecke und läuft als Pferd davon“.

Das ist die bittere Lektion für die Stuttgarter SPD. Hoffentlich lernt sie endlich daraus. Oben bleiben!

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein abgelegt und mit , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

4 Antworten zu Rede von Siegfried Bassler bei der 147. Montagsdemo

  1. Heinz Lindenmaier sagt:

    Die CDU eifert der SPD in einer Erfolg versprechenden Weise nach. Obwohl sie einerseits einen tiefen Fall in der Art der SPD auf zehn Gemeinderatssitze befürchten, fällt ihren Protagonisten nichts besseres ein, als den Sitzungsgeld-Abkassierer Roland Schmid wieder ins Boot zu holen und auf die Gegner Turners einzuschlagen.
    So wird das nichts … s. HIER

  2. Artur Karl Maria Bay, Weingarten sagt:

    Die Politiker der CDU, SPD und FDP haben das baden-württembergische Wählervolk unterschätzt.
    Wer Menschen verunglimpft und Demonstantinnen und Demonstranten für nicht kompetent in Sachen Stuttgart 21 hält, wird am Ende abgestraft werden.
    Die Bürgerinnen und Bürger sind längst mündig geworden und werden sich auch in Zukunft im Sinne der Rede von Siegried Bassler zu wehren wissen -friedlich aber argumentativ auf Augenhöhe der politischen Kräfte.
    Die Rede von siegfried Bassler ist ein Beweis dafür; er hat den „kleinen Leuten von der Straße“ ein Gesicht gegeben. Danke und Bravo!
    Artur K. M. Bay aus Weingarten/Oberschwaben.

  3. Ingrid Pfleiderer sagt:

    Werter Herr Bassler, wie kann man nur so verbittert sein, dass man sich wegen eines Tiefbahnhofs dermaßen „verrennt“ wie Sie. Alles, was zu S21 beschlossen wurde, ist sowohl in Ihrer Partei als auch in Stadt und Land auf demokratische Weise zu Stande gekommen. Daran ändern ihre Vorwürfe und Unterstellungen nichts. Bitte zeigen Sie sich als guter Demokrat und akzeptieren Sie, dass die Mehrheit anders entschieden hat und es nicht nach Ihrem persönlichen Willen geht. Es ist kein guter Stil, wenn dem demokratischen Sieger Lüge und Täuschung unterstellt werden. Ihr geradezu blindes Vertrauen in den neuen OB Kuhn kann ich nicht nachvollziehen. Gestern hat der MP erstmals offiziell die Schleusen beim Thema S21-Kostenüberschreitung geöffnet und alsbald wird der grüne Parteikollege Kuhn folgen. Dieses ständige Umfallen der grünen Partei bezeugt, dass S21 für die Ökos nur das Gefährt zur Macht in Stadt und Land war. Die für politische Zwecke „missbrauchten“ S21-Gegner sind die Gelackmeierten.

  4. Herbert sagt:

    Hallo,
    gibt es denn gesicherte Erkenntnisse, dass die Mehrheit der SPD-Mitglieder gegen S 21 ist?

    Die SPD BW hat etwa 39.000 Mitglieder, die benannte Seite SPD-Mitglieder gegen S 21 709 Unterstützer.

Kommentare sind geschlossen.