Dieter Reicherter: Volksabstimmung zu S21 und die Verantwortung der Politik

Auf nachfolgendes Schreiben erhielt Richter a. D. Dieter Reicherter bislang keine Antwort:

Frau Staatsrätin Gisela Erler
Herrn Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann
Herrn Stellvertretenden Ministerpräsidenten Dr. Nils Schmid
Herrn Minister Winfried Hermann
Herrn Fraktionvorsitzenden Claus Schmiedel

Volksabstimmung zu S21 und die Verantwortung der Politik

Sehr geehrte Frau Erler, sehr geehrte Herren,
seit dem Eingeständnis der Bahn hinsichtlich der Kostenexplosion bei S 21 hört die Bevölkerung aus Ihrem Mund, Sie fühlten sich an das Ergebnis der Volksabstimmung gebunden und sähen keine Möglichkeit zum Projektausstieg.

Obwohl ich Jurist bin, möchte ich diese falsche juristische Auslegung nicht vertiefen und lediglich aus einem Schreiben der Frau Landesabstimmungsleiterin Friedrich vom 13.2.2012 zitieren:
„ Gegenstand der Volksabstimmung war ausschließlich das S 21 - Kündigungsgesetz mit dem Ihnen zusammen mit der Stimmbenachrichtigung übersandten Inhalt. Anderslautende Medienberichte beruhen auf der Pressefreiheit und sind rechtlich irrelevant. Nachdem die Gesetzesvorlage die nach der Landesverfassung erforderliche Stimmenmehrheit nicht erreicht hat, hat sich insoweit auch keine Änderung der Rechtslage ergeben.“

Diese zutreffende Bewertung verstehe ich so, dass die anderslautenden Verlautbarungen der Landesregierung und der sonstigen Politikerinnen und Politiker auf der Meinungsfreiheit beruhen und rechtlich irrelevant sind, also vor allem die Politik nicht zur Fortführung des Projekts legitimieren.

Wenn Sie das anders sehen, bitte ich darum, den Willen der Abstimmungsmehrheit zu respektieren und das Projekt wie zur Abstimmung gebracht umzusetzen, nämlich:
- zu Kosten von höchstens 4,526 Milliarden EURO
- unter Bewältigung von in der Spitzenstunde 30 Prozent mehr Zügen als heute angenommen, wobei dies angesichts der fundierten Kritik an den Methoden des Stresstests durch ein unabhängiges Gutachten bestätigt werden muss
- unter Einhaltung der sogenannten Schlichterempfehlung von Herrn Dr. Geißler, also der Verwirklichung von S 21 Plus, somit vor allem Überführung der Grundstücke in eine Stiftung
keine Fällung von gesunden Bäumen im Schlossgarten
Erhalt der Gäubahn
entscheidende Verbesserung der Verkehrssicherheit im Bahnhof mit Verbreiterung der Durchgänge und Barrierefreiheit der Fluchtwege
Verbesserung des Brandschutzes und der Entrauchung
Erweiterung des Tiefbahnhofs um ein neuntes und zehntes Gleis sowie weitere Verbesserungen im Streckennetz

Diese Vorschläge wurden von allen Beteiligten beim Faktencheck für notwendig gehalten und ihre Umsetzung von allen im Landtag vertretenen Parteien im Wahlkampf zugesagt. Sie waren Grundlage der Volksabstimmung.

Wenn Sie unter Einhaltung des zugesagten Kostenrahmens die Umsetzung des Projekts in der zugesagten Art und Weise garantieren können, mögen Sie sich trotz fehlender juristischer Relevanz der Abstimmung weiter für den Bau einsetzen. Wenn Sie aber dazu nicht in der Lage sind, fordere ich Sie auf, sich nicht länger hinter der damaligen Meinung von ca. 30 % der Abstimmungsberechtigten zu verstecken, sondern Ihre Verantwortung als Politiker wahrzunehmen. Dafür wurden Sie nämlich gewählt!

Bitte erklären Sie den Bürgerinnen und Bürgern, wie die technischen, juristischen und finanziellen Schwierigkeiten beseitigt werden sollen, die derzeit einem Bau im Wege stehen, falls Sie das Projekt nicht stoppen wollen. Und erläutern Sie, wie Sie verhindern wollen, dass später eine gigantische Bauruine entsteht. Beantworten Sie auch, wie Sie im Rahmen einer kritischen konstruktiven Begleitung für die Einhaltung der Schlichterempfehlung sorgen wollen, also vor allem für effektiven Brandschutz und Einhaltung der Leistungssteigerung.

Frau Staatsrätin Erler hat mir mit Schreiben vom 3.12.2012 in Bezug auf die Baumfällungen im Schlossgarten vom Februar 2012 mitgeteilt: „Am Ende möchte ich Ihnen aber zustimmen, dass sich die Befürchtungen leider bestätigt haben, dass die Baumfällungen zwar rechtlich zulässig und genehmigt, aber durch die Verzögerungen sachlich nicht geboten waren.“

Welche Konsequenzen ziehen Sie als Verantwortliche aus dieser bitteren Erkenntnis für das weitere Vorgehen, insbesondere die anstehenden Baumfällarbeiten im Rosensteinpark?

Mit freundlichen Grüßen

Dieter Reicherter
27.12.2012

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9 Antworten zu Dieter Reicherter: Volksabstimmung zu S21 und die Verantwortung der Politik

  1. Uwe Mannke sagt:

    Wir erleben bei S21, dass ein Projekt begonnen wurde, ohne eine objektive Prüfmöglichkeit von wirksamen k.o.-Kriterien. Daher gibt es nur zwei Stopmöglichkeiten: fehlende Finanzierung und damit Haftungsrisiken für handelnde Personen und der politische Wille. Das erste Risiko ist gerade in der Konkretion, ohne dass das Ergebnis aber feststeht. Bleibt der politische Wille. Wir haben nur ein gescheitertes Gesetz, aus der Mitfinanzierung durch das Land auszusteigen. Darüber hinaus ist der politische Wille in diesem Land durch Lethargie gekennzeichnet. Eine vom Volk gewollte Volksabstimmung ist praktisch kaum denkbar.

  2. johann sagt:

    Die Regierungskoalition hat im Koalitionsvertrag vereinbart, sich dem Ergebnis des durchzuführenden VE zu beugen.

    An diesen Vertrag sind die Koalitionäre selbstverständlich gebunden.

    • Norbert Rupp sagt:

      Rechtlich handelt es sich dabei um einen Privatvertrag. Hier gilt das BGB: wenn die Bedingungen,hier die Rechtsgültigkeit der Volksabstimmung, nicht mehr existieren, wie der Erfinder der Volksabstimmung selbst feststellt, dann sind auch die entsprechenden Bedingungen des Koalitionsvertrages nicht mehr rechtsgültig also obsolet. Niemand ist dann mehr an diese vertragliche Bestimmung gebunden. So einfach ist das. Mekwürdig ist, das die Befürworter nur dann auf Rechtsnormen wie z.B. Verträge etc. pochen, wenn es ihnen in den Kram passt.

  3. V.A. sagt:

    Ich kann dem Herrn Reicherter in allen Punkten nur zustimmen. Als ehemaliger CDU-Stammwähler aus Norddeutschland!, ist für mich die CDU auf mind. 15 Jahre nicht mehr wählbar, vermutlich nie wieder, weil die Bundesfraktion als Vertreter des Bundes (u. Miteigentümer der DB) S21 weiter unterstützt und nicht schon lange gestoppt hat. U.a. durch S21 wird deutlich, dass die etablierten Politiker (auch der SPD u.a.) zu sehr im Lobbyismus verstrickt sind und nicht die Interessen des Volkes sondern „andere“ Interessen vertreten. Am ehesten traue ich den Grünen ein verantwortliches Vorgehen im Sinne des Volkes zu, wobei scheinbar auch da niemand mutig genug ist für Recht und Wahrheit kompromisslos einzutreten und Entscheidungen aufgrund der erdrückenden Beweislage zu „erzwingen“. „Recht“ heißt für mich in diesem Zusammenhang in erster Linie Verpflichtung zur Wahrheit und verantwortlichem Umgang mit dem Vermögen des Volkes (Steuergeldern). „Recht“ heißt für mich nicht, an Rechtsbeschlüssen festzuhalten, die nur durch Lügen, bewusste Täuschungen und Tricks zustande gekommen sind. Da ist es nur „Recht und billig“ nach Möglichkeiten zu suchen, wie man solche „Rechtsbeschlüsse“ mit legalen Mitteln aushebeln kann. Daher ist das Problem S21 und auch BER ein bundesweites Problem, was erheblichen Einfluss auf das Wahlverhalten aller Wähler hat, zumindest bei denen, die sich mit dem Verantwortungsbewußtsein der Politiker im Zusammenhang mit Großprojekten und anderen Entscheidungen beschäftigen.

  4. Lang sagt:

    Sehr geehrter Herr Reicherter,
    Danke für Ihr Schreiben und die Veröffentlichung an Frau Staatsrätin Frau Erler.
    Es ist gut, wenn man diese Punkte in der von Ihnen so sorgfältig geordneten Aufstellung lesen kann.
    Danke für Ihre Unterstützung.
    Margot Lang

  5. Gerd Jungmann sagt:

    Hallo Herr Reicherter. Ihr Schreiben ist
    wirklich großartig. Man kann diese Dummheit
    nur noch mit Zynismus beantworten.
    Vielen Dank
    Gerd Jungmann
    (Ich bin übrigens jetzt seit 2 1/2 Jahren
    jdeden Montag auf der Straße)

  6. Jörg Hirsch sagt:

    Ihre Post, Herr Reicherter, ist gut! Danke.
    Bei der Montagsdemo sollten all die Briefe ausgerufen werden, die (noch) unbeantwortet geblieben sind.

  7. Reini sagt:

    Herr Reicherter hat Recht!
    Dabei müssten eigentlich schon zwei Punkte genügen um das Projekt gesetzlich stoppen zu können….
    Erstens, wären da die aus dem Ruder laufenden Kosten. ALLE Kosten müsste die Bahn, oder der Bund übernehmen, auch alle zukünftigen Mehrkosten! So wurde in der Volksabstimmung entschieden! Das kann man der uneinsichtigen Bahn durch die Sprechklausel nochmal in aller Deutlichkeit sagen. Kretschmann soll sich bloß daran halten…..

    Zweitens wird doch nicht mal mehr von der Bahn bestritten, dass der Tiefbahnhof weniger kann als der Kopfbahnhof! Damit ist aber die Baugrundlage für diesen Unsinn weggefallen! S21 müsste 30% MEHR können!
    Auch die Zuschüsse von der EU sind ungesetzlich, da S21 ein Schienenrückbauprogramm ist.
    Leider befürchte ich, dass Kuhn nicht besser als Kretschmann sein wird…

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