Verfahren eingestellt – Was ist Wahrheit?

... diese berühmte Frage des Pilatus stellte sich für die Anwesenden im Saal des Landgerichts am Mittwochmorgen, 27.3., beim Berufungsverfahren gleich mehrfach, während sie den Hauptkommissar und - damals, am 8.2.2011, Zugführer der BFE-Einheit – sowie seine damalige Untergebene hören mussten. An jenem kalten Februartag zur Mappuszeit will der Herr Kommissar den Demonstranten L., der am Nordflügel gegen die zerstörerische "Baumverpflanzung" protestierte, von der Straße abgeführt haben, und zwar vom Mittelstreifen aus. Die Anklage lautete auf versuchte Körperverletzung und Widerstand gegen die Staatsgewalt. Den ursprünglichen Vorwurf „schwere Verkehrsgefährdung“ hatte man inzwischen fallengelassen, er wurde aber von den Polizisten in ihrer Aussage als Zeugen wieder zur Sprache gebracht.

Gegen das Urteil aus dem vorangegangenen Amtsgerichtsverfahren – 30 Tagessätze à 50 Euro – war man in Berufung gegangen, der Law-and-order-Staatsanwalt Fuchs (heute abwesend) genauso wie die Anwältin des Angeklagten.

Der Angeklagte L. sagte in knappen Worten aus – von zwei weiteren Zeugen bestätigt – er sei kurz nach 9 Uhr zusammen mit anderen Demonstranten und einem Banner während einer Rotphase (für den Verkehr) auf die Heilbronner Straße gegangen und habe sich dort hingesetzt, um gegen die Baumschänderei zu protestieren. Er sei aber sogleich und ohne Aufforderung, sich zu entfernen, mit erheblicher Gewalt hochgezerrt und im Polizeigriff abgeführt worden.

Die beiden Polizisten verstiegen sich in widersprüchliche Konstruktionen über den Tathergang. So sprach der BFE-Zugführer aus Göppingen von der „deeskalativen Eintrittsschwelle“ (Heiterkeit im Saal), womit er wohl seinen Sprung über das Hamburger Gitter und sein Zustürzen auf L. gemeint haben könnte. Die Beamten fingen jedoch an zu schwimmen, als ihnen ein Video gezeigt wurde: Diese Aufnahme eines CamS21-Reporters lag bei der ersten Verhandlung noch nicht vor, so dass die Aussagen der Polizei damals von Staatsanwalt Fuchs und der Amtsrichterin als Realität übernommen werden konnten.

Nun aber zeigte sich auf dem CamS21-Video nicht nur, dass es keine Aggression, Tritte oder ähnliches von L. gegeben hatte, sondern außerdem, dass ein Polizei-Filmer die ganze Szene aufgezeichnet hatte. Dieses Polizeivideo war bisher verschwiegen worden (und lag auch bei der Verhandlung nicht vor). Und man erfuhr nun auch, warum: Nach mündlicher Information der Polizeibehörde an die Richterin war auch dort keinerlei Bestätigung für die „Aussagen“ des Polizisten und seiner Untergebenen zu sehen – man kann also getrost sagen, dass die Polizei wissentlich ein Beweismittel zurückge-, wenn nicht vorenthalten hat, wohl weil es in offenem Widerspruch zur Aussage des BFE-Führers steht.

Der BFE-Führer geriet beim gemeinsamen Betrachten des Videos ins Schwimmen, reagierte auf konkrete Fragen des Gerichts mit „... kann ich Ihnen nicht sagen“, und noch mehrmals „... kann ich Ihnen auch nicht sagen“, oder auf die Frage nach den angeblichen Tritten „... es war im Gefühl so, dass er versuchte zu treten ...“, so dass er schließlich in einem Akt der Gnade ohne eingehendere Befragung den Saal verlassen durfte. Zuvor schon hatte ein Zuhörer es nicht mehr ausgehalten und war mit der Frage gegangen, ob man auf der Polizeiakademie so zu lügen lerne.

Bei diesem Stand der Dinge zog die Richterin die Konsequenzen und schlug die Einstellung nach § 153/2 StPO vor, was von allen Beteiligten angenommen wurde – auch von der Staatsanwaltschaft. Die Alternative wäre ein weiterer Verhandlungstag mit Vorführung des Polizei-Videos gewesen, wovon sich niemand zusätzliche Aufklärung erhoffen konnte. Ein vernünftiger, erfreulicher Ausgang.

Es zeigte sich wieder einmal, wie wichtig eine freie, unabhängige Dokumentation bei Demonstrationen und Versammlungen ist – darum hier ein großer Dank an camS21! Ohne deren Video wäre es höchstwahrscheinlich zu einer Verurteilung gekommen.

Die ruhige, um Objektivität bemühte Verhandlungsführung und die glaubwürdigen Aussagen der Zeugen trugen ein Übriges bei – ein Verfahren, das optimistisch stimmt. Wir schauen gespannt auf die weitere Entwicklung, besonders bei der Justiz und Polizei. Sie ist nicht unser Feind, auch wenn es immer noch Beamte gibt, die mit einem vordemokratischen Weltbild auf die protestierenden Bürger blicken und entsprechend handeln. Auch dagegen müssen wir uns weiter wehren. Darum: Unterstützt camS21!

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8 Antworten zu Verfahren eingestellt – Was ist Wahrheit?

  1. Thomas A sagt:

    Mit der Einlassung, auf dem Polizeivideo seien keine Bestätigung der Polizeiaussagen vorhanden, wurde die Existenz des Videos bestätigt. Die gesamte Strafverfolgungsbehörden sind verpflichtet auch entlastendes Beweismittel zu berücksichtigen. Es wurde der Verhandlungsbeschreibung nach nicht einmal die Existenz offengelegt. So sieht meines Erachtens belastungsorientiertes Ermitteln aus. Es wird Zeit diese Fälle durch Jagdeifer betriebsblinden Polizeiarbeit mit anschließend nachweislich nicht konsisten Polizeiaussagen zu sammeln.
    Einige Gespräche in meiner Vergangenheit mit Polizisten ergibt für mich folgendes Bild. Nur ein Teil wird mangels Beförderungspositionen in der Leistungsbeurteilung auf die Stufe gestellt die eine Beförderung nach sich zieht. Straftaten mit Verurteilungen erfahren durch Beurteiler höhere Aufmerksamkeit. Dabei wird meist nur das Urteil abgefragt. Im Gegenzug wissen altgediente Autofahrer, hat der Eifer Ordnungswidrigkeiten zur Anzeige zu bringen nachgelassen, seit die Schupo Aufgaben der Kripo übernommen hat. Wenn das Risiko vom Beurteiler beim Vorwurf einer übertriebenen Deliktdarstellung eine Watschn zu kriegen gering ist, dh. bei erhöhter Tätigkeit im Bereich Fachaufsichtsbeschwerden keine Nachteile zu erwarten sind reduziert sich oft die Beisshemmung.
    Als Siemenschef Löscher zum Standpunkt befragt wurde, seine Verkäufer hätten durch Bestechung doch dem Firmenwohl gedient, meinte dieser – sie haben sich selbst durch die Leistungsabhängige Beförderung ein größeres Gehalt beschafft, dies sei für ihn klassische Korruption.
    Würde Herr Löscher – selbstverständlich im Gegensatz zu mir – das Anzeigeverhalten in diesem Fall als Korruption bezeichnen ?

  2. Der aus dem Norden sagt:

    Einfach mal Danke.
    Darf man die erwähnten Videos verlinken und öffentlich machen (die gab es doch sicher schon öffentlich als livestream/bei Youtube)?

  3. mister x sagt:

    Guter Bericht. Aber der Link ist falsch. StPO nicht StGB. Als ob solche Falschaussagen verfolgt werden würden…

    HIER

  4. Tine sagt:

    Super! Freut mich für den Angeklagten L. 😉 Und ich finde es sehr wichtig, dass das an die Öffentlichkeit kommt!

  5. wott sagt:

    Grundsätzlich: Eine Einstellung nach §153 machen kriminelle Richter dann, wenn die Sach- und Rechtslage so offensichtlich ist, dass der anklagende Staatsanwalt und die gewaltkriminellen Polizeivollzugsbeamten angeklagt werden müssten. Damit die Staatsanwaltschaft sich rausreden kann und nicht anklagen muss, stellt der Richter/die Richterin dann nach §153 ein. Lasst Euch nicht vera… von der Bande. Einstellung nach §153 ist nicht gut sondern eine typische Massnahme der Strafvereitelung.

    • K. Neumann sagt:

      Genau. So ist es. Wer als Zeuge vor Gericht lügt oder eine andere Form der Lüge die Wahrheit mit Vorsatz unterdrückt wie hier die Polizei, macht sich der Falschaussage in Tateinheit mit versuchter Strafvereitelung schuldig.

      Zeugen machen sich strafbar, wenn sie wie hier die Wahrheit mit klarem Vorsatz durch Verschwindenlassen oder Unterdrückung des vorhandenen Beweismittels eine Strafvereitelung begehen. Frage noch: war einer der Beamten vereidigt?

      Als Bürger bin ich nach so einer Aktion vorbestraft. Polizei und Behörden aber handeln, da immer objektiv und ohne Motiv, selbstverständlich in diesem Staat immer jenseits einer strafbaren Strafvereitelung im Amt.

      Häussler aber, sofern es sich um harmlose Gegner des Projektes handelt, ist immer aufmerksam und erbarmungslos, wenn es um das Recht geht, nicht wahr?!!

      s. HIER

      Bei verbeamteten Gesetzesbrechern schaut er wohl mit Vorsatz weg.

      RAN! Kann ich da nur sagen. Auch an diese Staatsanwaltschaft, die bei diesem Vorgang einfach nur zugeschaut hat und ihrer Pflicht gegenüber diesen Polizeibeamten nicht nachgekommen ist.

      Und nach Stickelberger ist immer noch alles ok und vollkommen im rechtsstaatlichem Lot.

  6. Peter Illert sagt:

    Bei vielen pragmatisch eingestellten Angeklagten läuft der § 153.2 StPO auch unter der Bezeichnung
    „Freispruch 2.Klasse“.
    Entsprechend gross ist die Zustimmung Vieler, die vor Gericht landen.
    Die Prozessführung seitens der Richterin hob sich übrigens positiv von einigen anderen Verfahren ab, die ich am Landgericht gesehen habe.

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