Rede von Martina Moog bei der Großdemo am 15.6.

Martina Moog ©weibergRede von Martina Moog, NO TAV, bei der Großdemo am 15.6.2013 auf dem Stuttgarter Schlossplatz

Ich freue mich sehr, heute mit euch an dieser Kundgebung teilzunehmen. Ich heiße Martina, komme aus dem piemontesischen Susatal und bin eine No TAV. Ich gehöre dort  einer Arbeitsgruppe an, die internationale Vernetzungsarbeit leistet und sich „Presidio Europa“, auf Deutsch in etwa „Mahnwache Europa“, nennt.

Die No-TAV-Bewegung ist einigen von euch vielleicht bekannt, weil es bereits etliche konstruktive Begegnungen zwischen S-21- und TAV-Gegnern gegeben hat, aber ich denke, den meisten sagt  No TAV nichts, weil in den gängigen deutschen Medien keine Infos dazu zirkulieren.

Ich bin hier, um euch einige Aspekte dieser italienischen Bürgerbewegung kurz vorzustellen, und klar zu machen, wie ähnlich wir uns sind, wie viele Parallelen es gibt und dass wir uns gegenseitig stützen können. Euer Demo-Flyer könnte auch der unsrige sein. Trotz unterschiedlicher Prämissen sind die Prinzipien und Abläufe bei unnützen Großprojekten immer die gleichen. Und um unnütze, aufgezwungene, Schaden bringende Großprojekte geht es hier in Stuttgart ebenso wie bei uns und andernorta. Die Methode S 21 und die Methode TAV sind identisch. Ich würde sogar sagen, das Prinzip Megaprojekt ist nahezu immer und überall gleich.

Ein paar Worte zum Susatal

Das Susatal ist ein Alpental, das von Turin westwärts gen Frankreich führt. Ein landschaftlich sehr schönes, aber auch geplagtes Tal, das üppig von verschiedensten Infrastrukturen durchzogen ist. Eigentlich schon mehr als genug für ein schmales Tal. Wovon es nicht mehr genug gibt, sind Krankenhäuser, Kindergärten, begehbare Kulturdenkmäler, soziale Einrichtungen, die  werden geschlossen, die Bauleichen der Winterolympiade 2006 stehen unbenutzt und kostenträchtig herum, und etliche der im Tal angesiedelten Industrieunternehmen hecheln nach Aufträgen, die nicht mehr eingehen. Heutzutage Normalzustand.

Das Susatal fällt ansonsten eher aus der Norm heraus. Weil sich da unter anderem über den Widerstand gegen ein Bahnmegaprojekt ein ganz besonderer Nährboden für ein neues kritisches Bewusstsein gebildet hat, sozusagen eine Art gesellschaftliches Experimentierfeld. Alpenländler mit Weitblick, die über den Tellerrand rausschauen. Einer der selbstbewussten Slogans lautet: No TAV – eine Garantie für die Zukunft.
Und so sehe ich das auch: die NoTAV-Bewegung ist nicht nur eine Protestbewegung, sondern eine Chance, in Italien auf verschiedenen Ebenen etwas zu bewegen und umzuwälzen, weil andernfalls wir plattgewalzt werden.

TAV steht für Treno ad Alta Velocità. Eine neue Hochgeschwindigkeitszugstrecke soll gebaut, ein 57 km langer Tunnel unter dem Alpenmassiv gebohrt werden.
Warum sind wir dagegen? Wir sind nicht gegen schnelle Züge, da wo sie angebracht sind. Wichtiger sind uns allerdings verlässliche, saubere und intakte Züge, pendlerfreundliche Verbindungen, bezahlbare Tarife, die Verbesserung bestehender Strukturen. Warum bedarf es einer neuen Hochgeschwindigkeitsstrecke durch unser Tal, wenn es doch eine funktionierende, völlig unausgelastete, erst kürzlich modernisierte Linie samt Alpentunnel bereits gibt, auf der auch TGVs verkehren?

Das Megabahnprojekt zwischen Turin und Lyon war zunächst nur für den Personenverkehr vorgesehen, dann hat die Politik umgepolt auf den Gütertransport und schließlich auf den gemischten Betrieb, was an und für sich schon absurd ist, weil diese unterschiedlichen Nutzungsarten nicht zusammenpassen und Gütertransport per Schiene alles andere als Hochgeschwindigkeit braucht. Sicher, die LKWs sollen auf langen Distanzen möglichst auf die Schiene, aber warum tut die italienische Politik dann nichts wirklich Sinnvolles dafür, sponsert hingegen die Auto-Lobby und lässt zusätzlich zur bislang einfachen Tunnelröhre des Frejus-Autobahntunnels eine zweite bauen? Was bedeutet, dass derzeit eigentlich zwei Tunnelbauprojekte anstehen – der helle Wahnsinn, der uns noch einige Zeit beschäftigen wird.

Das Projekt wird  als zentraler Teil des sogenannten mediterranen Korridors propagiert, der nach Bauende, das heißt nach Jahrzehnten, Waren aller Art von Lissabon nach Kiew und umgekehrt führen sollte. Man fragt sich nur welche, angesichts dessen, dass der Warenfluss auf dieser Trasse seit Jahren im konstanten Abwärtstrend liegt. Die megalomanischen Prognosen der Projektbetreiber haben mit der Realität nichts zu tun.
Auch wenn der Reißbrett-Korridor an seinen Endpunkten anfängt abzubröckeln und auch sonst Risse zeigt, der italienische Staatshaushalt auf Ebbe steht und die Troika drückt: das Kernstück des Zugprojektes soll auf alle Fälle bleiben, durchs Susatal und unter den Alpen durch. Unbedingt! Denn es geht um den Fortschritt (klar), um den Anschluss an die Welt (klar), das Piemont könnte sonst abgehängt werden (klar). Italien soll eine logistische Plattform werden (oh weia). Und die vielen Arbeitsplätze, die damit geschaffen werden können (prekäre und illegale, na ja). Das beamt uns aus der Krise raus. Und Europa will es so, das italienische Parlament will es so, nahezu alle Parteien wollen es so, und die Wirtschaft sowieso. Alle demokratischen Instanzen sind durchlaufen und basta!  Protest kann gern geäußert werden, wird aber nicht berücksichtigt, denn es ist alles schon beschlossene Sache und wir machen sowieso weiter.

Das ist in etwa die Argumentationskette der Lobbys und der Regierungsvertreter. Etwas dürftig! Und mehr kommt da nicht rüber, außer Propagandamantras über die Medien. Informationsveranstaltungen oder Podiumsdiskussionen setzen sich die Befürworter selten aus.

Wir schon. Wir lernen täglich dazu. Seit über 20 Jahren schon dauert unser Widerstand. Wir machen uns schlau. Auch die sogenannten einfachen Leute übertrumpfen die Befürworter in technischem Sachverstand. Wir lassen uns nicht einschüchtern und wir lassen uns nicht hinters Licht führen. Und wir trauen der Presse nicht, den Politikern und Parteien schon gar nicht. Offensichtlich machen wir Angst. Scheinbar wirken wir subversiv. Der Staat fühlt sich bedroht, weil wir nach langen Jahren der Nicht-zur-Kenntnisnahme durch Medien und Politik es nunmehr geschafft haben, national und manchmal sogar international wahrgenommen zu werden und Solidarität erfahren. Weil wir eine andere Vorstellung von Zukunft haben, von Gemeinwesen, von Demokratie. Weil uns die neoliberalen Globalisierungsmechanismen ‘langsam gründlich auf den Senkel gehen‘. Weil wir nicht einsehen, warum in das Bahnprojekt Turin-Lyon mindestens 26 Milliarden Euro fließen sollen, wo man mit dem gleichen Geld z.B. die vom Erdbeben zerstörte Stadt Aquila wieder aufbauen könnte. Das wäre ein sinnvolles Großprojekt. Oder es gäbe so viele einzelne, kleine, menschendienliche Projekte. Aber die bringen eben keinen oder nicht genug Profit.

Stattdessen werden Projekte vorangetrieben, die niemandem wirklich Nutzen bringen außer den Betreibern, den Banken und den Politikern. In Italien steht noch die Mafia auf dem Plan, die sich im Baugewerbe besonders gern suhlt. Auch im Susatal. Die bislang erteilten Bauaufträge gingen bislang fast ausschließlich ohne öffentliche Ausschreibungen an Firmen, die kein Antimafia-Zertifikat haben, die überall ihre nicht ganz sauberen Finger mit drin haben. Selbstverständlich spielt das verschachtelte System der Subsubsubunternehmen eine wichtige Rolle. Jeder will seinen Teil. Die Kleinen gehen dabei ein, die Großen sanieren sich reichlich reich. Skandalöse Zahlen ergeben sich, wenn man allein die vorgesehenen Baukosten in Bahnzentimeter umrechnet: ein cm  läge bei 1.300 Euro, 10 cm folglich bei 13.000, 1 m bei 130.000, dann wird einem schwindlig. Ein Aderlass öffentlicher Gelder, die über Project Financing in private Taschen fließen.

So wie Infrastrukturprojekte derzeit schwer im Trend sind, so sind es auch die dazugehörenden Bahnhofsbauten. Jeder Hochgeschwindigkeitsbahnlinie steht natürlich auch mindestens ein fescher Bahnhof zu. Reggio Emilia und Bologna haben grade solche bekommen und sind vor wenigen Tagen unter höchster politischer Repräsentanz und hohem Polizeiaufgebot feierlich eingeweiht worden. In Reggio Emilia, bzw. in der Pampa bei Reggio Emilia, hat sich der Stararchitekt Calatrava mit einer ästhetisch durchaus ansprechenden Stahlkonstruktion austoben dürfen, bei der eineinhalb Mal so viel Stahl verbraucht wurde wie beim Eifelturm und die ca. 79 Millionen Euro gekostet hat. Leider hat es am Tag nach der Einweihung auf die Bahnsteige geregnet, weil die Abdichtungen nicht halten. Ähnliches gilt für den neuen Bahnhof in Bologna. Der uns zugewiesene Stararchitekt heißt Kengo Kuma und auch er hat fantasievolle Ideen für einen unsinnigen internationalen Bahnhof im Hauptort des Tals, für deren Verwirklichung er gern knappe 50 Millionen Euro kassieren möchte. Schade nur, dass dafür etliche Wohnhäuser geopfert werden müssen und dass die Skitouristen aus Frankreich dann nicht mehr direkt nach Bardonecchia gelangen wie bisher, sondern mehrfach umsteigen müssen, um zu ihren Pisten zu kommen.

Tja, gegen all das legen wir uns quer. Und gegen die Zerstörung der Natur und gegen die gravierenden Gefahren für die Gesundheit der Menschen, denn die jahrzehntelangen Tunnelbauarbeiten werden asbesthaltiges und uranhaltiges Material zu Tage fördern, die Wasserquellen werden versiegen oder verschmutzt, der Feinstaub der Aushubtransporte wird sich auf die Lungen legen. Der Asbestmüll soll übrigens – laut offizieller Dokumente -  zum Teil auch nach Deutschland in Sondermüllanlagen transportiert werden. So bekommt auch ihr was ab vom TAV. Die Liste der zu erwartenden Kollateralschäden wäre unendlich lang, wenn ich alles aufzählen würde.

Eine Baustelle gibt es übrigens leider schon. Nicht den Haupttunnel betreffend. Aber die Bohrung eines Probe- und Belüftungstunnels. Das Gelände, das wir als „Libera Repubblica della Maddalena“, als „Freie Republik Maddalena“, für über einen Monat besetzt gehalten haben, wurde auf brutalste Weise geräumt. Über 4000 CS-Tränengaskapseln gingen auf die Menschen herab und wurden auch auf Augenhöhe verschossen. CS-Gas, das nach der Genfer Konvention im Kriegsfall verboten ist, darf offensichtlich die Zivilbevölkerung benebeln. Seither ist das Gelände militärisch bewacht und mit doppeltem  Stacheldraht eingezäunt. Eine rote Zone von angeblich staatlich strategischer Bedeutung. Unsere Baumhäuser sind auch den Abholzarbeiten zum Opfer gefallen, über 6.000 Bäume, darunter jahrhundertealte Kastanien, haben ein trauriges Ende gefunden. The same old story. Die Baustelle ist in jeder Hinsicht illegitim, aber die Fakten sind geschaffen. Die Grundrechte mit Füßen getreten. Die Weinbauern müssen jedes Mal an verschiedenen Checkpoints ihre Ausweise zeigen, um zu ihren Reben zu gelangen. Wir No TAV sowieso. Wir stehen sozusagen unter besonderer Aufsicht. Und wenn es zu direkten Auseinandersetzungen kommt, zahlen wir auch einen hohen Preis. Zum Teil stark Verletzte, über 700 laufende Strafverfahren, ein Großprozess gegen 52 Aktivisten, der im Turiner Hochsicherheitstrakt à la Stammheim stattfindet. Die Richter scheinen auf einem Auge blind und auf dem auf uns gerichteten adlerscharf zu sein. Die  Kriminalisierungs-taktik auch der Mitte-Links-Regierung schiebt uns in die Terrorismusecke und zieht scharfes Geschütz auf.

Aber wir sind hart im Nehmen und widerspenstig. Außerdem kreativ. Wir wollen auch Spaß haben. Wir treffen uns in unseren Presidio-Hütten und machen bella vita. Laden Künstler ein und organisieren Veranstaltungen. Wir tanzen mit palästinensischen Gästen am Bauzaun oder lesen den Wachtrupps rund um die Uhr die italienischen Verfassungsparagrafen vor, nächtliche Waldgeister wecken durch Lockrufe die Hundertschaften der Sicherheitskräfte. Wir laufen Marathon und tragen unsere No-TAV-Fahnen mit in die Ferien.

Ich könnte euch noch unendlich viel mehr erzählen. Ich habe vieles überspringen und weglassen müssen. Woran mir aber besonders liegt, ist euch auf das „3. Europäische Forum gegen unnütze aufgezwungene Großprojekte“ hinzuweisen, das hier in Stuttgart vom 25. bis 29. Juli in den Wagenhallen stattfinden wird, das ich euch herzlich bitte wahrzunehmen. Infos findet ihr auf der entsprechenden Internetseite. Wir werden auch dabei sein. Und viele, viele andere Bewegungen. Das ist eine einmalige Chance für Stuttgart, um die Vernetzungsarbeit auszudehnen und zu intensivieren. Dieses Forum ist die natürliche und wunderbare Fortsetzung zweier Foren zu diesem Thema, die erstmals 2011 von uns im Susatal organisiert worden sind, und letztes Jahr in Notre-Dame-des-Landes ihre Fortsetzung gefunden haben. Unter anderem über diese Forumsarbeit, die auch in den Europäischen Sozialforen in Florenz und im World Social Forum in Tunis ihren Niederschlag gefunden hat, ist es uns gelungen, dem Begriff der „unnützen aufgezwungenen Großprojekte“ eine politische Tragweite zu geben. Daraus soll noch mehr werden. Das geht nur in Zusammenarbeit, wenn wir an einem Strang ziehen.

Ich möchte meinen Beitrag abschließen mit einem  Zitat einer compagna NoTAV, die auch schon einmal in der Stuttgarter Rosa-Luxemburg-Stiftung gesprochen hat, und die vor wenigen Tagen einen gut hierher passenden Satz geschrieben hat:

“Cè tutto: gli alberi, i lacrimogeni, la resistenza. La verità è rivoluzionaria, che non ha confini e avvicina i lontani...L'abbattimento degli alberi è una realtà ma anche una metafora che unisce Stuttgart, Istambul, la Valle di Susa. Restiamo umani, restiamo naturali!“ Nicoletta

“Da ist alles, die Bäume, das Tränengas, der Widerstand. Die Wahrheit ist revolutionär, kennt keine Grenzen und vereint die voneinander Entfernten… Das Abholzen der Bäume ist eine Realität, aber auch eine Metapher, die Stuttgart, Istanbul und das Susatal vereint. Bleiben wir menschlich, bleiben wir natürlich, d.h. den Menschen und der Natur verpflichtet!“ Nicoletta

A sarà dura! Oben bleiben!

Redetext als PDF

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