Rede von Dr. Annette Ohme-Reinicke bei der 182. Montagsdemo

Internationale Vernetzung – Verschiedenheiten und Gemeinsamkeiten

Auch ganz offiziell, in der Wissenschaft, bezeichnet man große Projekte, die sozialen und ökologischen Schaden anrichten, gern als ‚weiße Elefanten‘. Auf dem Forum gegen unnütze, aufgezwungene Großprojekte, das sich den ‚weißen Elefanten‘ zum Symbol gemacht hat, versammeln sich seit drei Jahren Vertreter von Initiativen gegen den Bau von Hochgeschwindigkeitstrassen, Flughäfen, gigantischen Brücken, Tunnelbohrungen und anderem. Die Vertreter der Protestbewegungen, die hier in Stuttgart zusammen kamen, stammen aus verschiedenen Regionen Frankreichs, Italiens, Spaniens, aus England, Rumänien und anderen Ländern.

Sie wehren sich gegen verschiedene Projekte. Sie sind auf verschiedene Weise organisiert. Für manche der Initiativen ist ziviler Ungehorsam eine Selbstverständlichkeit, für andere nicht. Sie sind verschieden in ihrer Größe. Manche sind zu mächtigen Protestbewegungen geworden, andere nicht. Sie stoßen auf verschiedene Reaktionen: Mal lädt man zum Dialog, mal wird gleich Tränengas verschossen. Verschieden sind sogar die Sprachen.

Aber all diese Initiativen und Protestbewegungen haben eine Menge an gleichen Erfahrungen gemacht:

  • entweder sollen ihnen Bauten vor die Nase gesetzt werden, die massiv in die Landschaft eingreifen, oder den Bürgern sollen öffentliche, identitätsstiftende Orte der Stadt genommen werden;
  • gleich ist auch: diese Projekte bedrohen die Lebensqualität der Anwohner und sie sind enorm teuer;
  • gemeinsam ist die Erfahrung: öffentliche Debatten über diese Projekte, ergebnisoffen im Sinne einer Res Publica, sollen nicht geführt werden.

So wirken diese technischen Großprojekte, dort wo sie gebaut sind, als Monumente sinnloser Geldverschwendung. Sie charakterisieren eine Politik, die weder willens noch in der Lage ist, den vielbeschworenen Markt tatsächlich zu regulieren. Eine Politik, die mit dem klassischen Politikbegriff nicht mehr viel gemein hat, weil sie die Bürger ausschließt. Stattdessen erleben wir am Beispiel dieser Großprojekte – in Europa und darüber hinaus – die Simulierung von Politik, ein Politiktheater, das sich von Lobbyistengruppen dirigieren lässt und kaum etwas mehr fürchtet als couragierte, mündige Bürger.

Als die neugebauten Fußballstadien in Brasilien enthüllt wurden, schauten die Bürger nicht nur auf Gebäude. Sie schauten auf den in Stahl und Beton gegossenen sinnlichen Beleg für die Entscheidung der Regierenden, lieber Geld für Prestigeprojekte auszugeben anstatt für dringend notwendige Verbesserungen der sozialen Einrichtungen – ein weltweites Phänomen.

Die Verschiedenheit der lokalen Anlässe all der Protestbewegungen, die sich hier in Stuttgart während des Forums versammelten, und die Gemeinsamkeit der Erfahrungen mit dem politisch-ökonomischen Prinzip – von Stuttgart 21 über das Susatal bis zum Taksim-Platz – verweisen darauf, dass all diese Projekte keine lokalen Absurditäten sind. Sie sind keine Hirngespinste profilneurotischer Provinzpolitiker, die schlecht rechnen können. Diese Projekte sollen gebaut werden, nicht obwohl sie teuer sind, sondern weil sie teuer sind. Denn sie bieten Raum für gigantische Spekulationsgeschäfte und verheißen rasanten Profit.

Das Erkennen, dass es sich auch bei Stuttgart 21 nicht nur um eine lokale Angelegenheit handelt, dass Stuttgart 21 eben nicht nur ein Bahnhof ist, diese Erkenntnis mag einigen Menschen Furcht bereiten, denn da wird auf einmal eine ganz andere Dimension sichtbar. Aber so ist das eben: Je genauer man hinschaut, umso mehr sieht man.

Und wer genau hinschaut, der sieht noch etwas: eine überregionale Vernetzung mit anderen Initiativen ersetzt selbstverständlich nicht die Protest vor Ort. Aber diese Vernetzung kann inspirieren. So sagte vorgestern eine Hamburgerin Folgendes: „Auch wenn der Streit um euern Bahnhof noch nicht entschieden ist, ihr habt doch schon ganz viel gewonnen. Kein Mensch hätte gedacht, dass in einer der scheinbar konservativsten Ecken Deutschlands so viele Leute auf die Straße gehen und sich wehren. Schon das hat uns alle unglaublich mobilisiert.“

Wie Proteste im Zusammenhang unnützer Großprojekte verlaufen können, wenn sie Teil gesellschaftlicher Auseinandersetzungen sind, das zeigt ein älteres Beispiel: nämlich der Kriegsflottenbau von Kaiser Wilhelm. 1918 verweigerten die Matrosen einfach den Befehl, die Geräte zu bedienen. Bald wurden Matrosen- und Arbeiterräte gegründet und die erste Republik in Deutschland ausgerufen. Ein Beispiel, wie man es auch machen kann.

Solange sich Menschen gegen irrationale autoritäre Bevormundungen zur Wehr setzen, ist eine Alternative möglich.

In diesem Sinne: Oben bleiben!

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