Rede von Joe Bauer bei der Samstagsdemo am 19.10.

Rede von Joe Bauer, Kolumnist, auf der Samstagsdemo am 19.10.2013

Schönen guten Tag, meine Damen und Herren,

vorneweg: es ist ein guter Anblick hier auf dem Lastwagen, die vielen Menschen unter freiem Himmel, aufgeweckte Leute, die nicht nur H & M-Tüten, sondern auch eigene Gedanken mit sich herumtragen. Willkommen auf dem Schlossplatz, auf der parlamentarischen Stehtribüne der Stuttgarter Opposition.

Wenn Sie einen Blick hinter sich werfen, sehen Sie das Kunstgebäude mit dem goldenen Hirsch auf dem Dach. Dieses Haus der Kultur hat unlängst der Landtag wegen des Umbaus seines Domizils in Beschlag genommen. Wenn Sie, liebe Mitglieder der außerparlamentarischen Opposition, zum Eingang dieser feudalen Fluchtburg der Berufspolitiker gehen, dann sehen Sie rechter Hand – wo sonst – eine Kopie von Andy Warhols berühmter Banane. Dieses legendäre Symbol zeigt uns die ganze Wahrheit über die grün-rote Landesregierung: Willkommen in der Bananen-Republik Baden-Württemberg!

Meine Damen und Herren, in der jüngeren Vergangenheit ist immer wieder die Frage aufgetaucht: Wozu noch Demos am Bahnhof, wozu noch Kundgebungen auf dem Schlossplatz, wo doch der ganze Protest trotz seiner guten Argumente Stuttgart 21 nicht stoppen konnte.

Diese Frage mag zunächst verständlich klingen, bei näherer Betrachtung aber erinnert sie an die neokonservative Denkweise der FDP. Es wäre ein absoluter Unfug, das politische Handeln allein nach den Siegeschancen zu bewerten. Die Streiterinnen und Streiter einer demokratischen Bürgerbewegung sollten niemals die Marketing-Floskel „erfolgsorientiert“ in den Mund nehmen. Was wäre das für eine geschwätzige Ausdrucksweise, was für eine hasenfüßige Haltung. Wir können uns nicht hinstellen und sagen: Die Maschinerie der Macht und ihre Profiteure sind auf der Siegerstraße, sie liegen zwei zu null in Führung, deshalb geben wir den Kampf jetzt auf. So haben wir nicht gewettet. Im Moment ist unsere Straße vielleicht nicht unbedingt die Straße der Sieger, aber wir sagen: In einem Drama des Betrugs gibt es Wendungen, und wir machen die Erfahrung: Die Straße lebt! Der Protest geht weiter!

Dies gilt vor allem nach der Bundestagswahl, die uns – wie erwartet – nicht mehr gebracht hat als das Koalitions-Geschacher jener Art von Volksparteien, die sich vom Volk entfernt haben.

Meine Damen und Herren, wir dürfen unsere eigene Geschichte nicht vergessen: Seit vier Jahren gehen die Menschen in Stuttgart gegen ein größenwahnsinniges Bahn- und Immobilienprojekt auf die Straße, und in dieser Zeit hat sich unser Blick nicht nur auf den inzwischen zerstörten Bahnhof und die ramponierten Parks gerichtet. Im Kampf gegen S21 haben viele Leute in der Stadt ein neues Bewusstsein entwickelt, sie haben Sensoren bekommen für die verlogene Politik der konventionellen Parteien – und viele haben begriffen: Wir haben ein Recht auf unsere Stadt.

Wir wehren uns dagegen, dass Investoren die Stadtplanung übernehmen. Wir wehren uns, wenn Geschäftemacher mithilfe der Politik ohne Rücksicht auf die Identität und den Charakter von Stuttgart ihre Bagger auffahren und hässliche Bürokästen hochziehen. Diese Sicht der Dinge geht über Stuttgart 21 hinaus, und wir müssen widersprechen, wenn die Propaganda den Leuten in der ganzen Republik weismachen will, in Stuttgart gehe es nur um einen Bahnhof. In Wahrheit geht es um unser Recht auf Stadt. Und dieses Recht will man uns nehmen.

Unter diesem Gesichtspunkt stellt sich die Frage nicht: wozu noch Demos? Die Straße ist das Podium, das Forum der Opposition. Auch wenn der eine oder andere inzwischen lieber als Bedenkenträger auf dem Sofa sitzt und sich aus Gründen der Schlaflosigkeit zu seinem Laptop schleppt, um in Internet-Foren besserwisserische Kommentare abzusondern.
Die anderen, die sich nach wie vor als aufrechte Bürger auf der Straße bewegen, begegnen an einem Tag wie heute etwas Sinnvollerem als den egoistischen Facebook-Debatten. Auf der Straße haben wir die Luft zum Atmen. Hier fliegen Gedanken. Wir treffen auf Menschen, um uns auszutauschen. Menschen, mit denen wir etwas auf die Beine stellen. Und wir haben Spaß bei unseren Aktionen unter freiem Himmel. Wir greifen Ideen auf, wir begegnen dem literarischen Scharfblick von Heinrich Steinfest, dem politischen Humor von Arnulf Rating.

Und noch eine Lehre, die wir aus dem Protest gegen Stuttgart 21 ziehen: Viele der Initiativen, die sich zuletzt in der Stadt gegründet haben, verdanken ihre Motivation allein der Bewegung gegen Stuttgart 21 – auch wenn das einige vergessen haben. Es kann doch nicht sein, dass das große Protest-Potenzial dieser Stadt nicht genützt wird. Im Juni standen wir hier mit dem Aufruf „Wehrt euch, vernetzt euch“. Diese Idee von der Vernetzung müssen wir realisieren.
Wie langweilig und falsch ist dagegen die Rechtfertigung der Ermüdeten und der Missgünstigen, wir hätten keine Erfolge vorzuweisen.

Es ist politisch ein Riesenerfolg, wenn Bürger dieser Stadt seit vier Jahren zeigen, dass sie sich von der Politik nicht alles gefallen lassen, dass sie sich für ihre demokratischen Rechte engagieren und dabei oft einiges riskieren. In Zukunft müssen wir noch mehr über ihren Tellerrand, über die Neigungswinkel der Bahnsteige hinaus schauen. „Wählen ist nicht genug“, sagt Hannes Rockenbauch. Das bedeutet: Wir auf der Straße müssen bei politisch existenziellen Themen präsent sein. Wir müssen da sein, wenn es um den Haushalt im Gemeinderat geht. Wir müssen da sein, wenn die Energieversorgung der Stadt zur Disposition steht. Wie müssen uns zeigen, wenn es die Politiker ablehnen, die ehemalige Gestapo-Zentrale, das Hotel Silber, als Lernort für die Auseinandersetzungen mit dem Rechtsextremismus unserer Zeit zu erhalten. – Wer jetzt fragt: Was hat das mit S21 zu tun, dem müssen wir sagen: S21 ist ein Lehrstück, es lehrt uns, wie wichtig es ist, generell die Politik der Stadt mitzubestimmen.

Eines ist doch klar, meine Damen und Herren: Wenn wir uns morgen von der Straße verabschieden, dann wird die Politik noch mehr Skandale als schon bisher unter den Tisch kehren. Ohne den Protest einer starken Bürgerbewegung würden wir in Zukunft nichts mehr von den Machenschaften erfahren, welche die Lebensqualitäten in dieser Stadt zerstören.

Noch zu einem weiteren Einwand der Ermüdeten vom Sofa: Sie sagen, seit der Volksabstimmung habe das Interesse am Protest nachgelassen. Da sage ich: na und? Wir müssen uns nicht mit Zahlen und Statistiken beschäftigen, das ist das Ablenkungsmanöver der üblichen Parteien. Wir stellen uns der Herausforderung, die demokratischen Eigeninitiativen der Bürger zu stärken. Weniger ist da oft mehr!

Herr Kretschmann leiert inzwischen bei jeder Gelegenheit denselben Satz herunter, einen Satz, den er für eine große philosophische Kalenderspruch-Schöpfung halten muss: Bei Wahlen, sagt er, gehe es nicht um die Wahrheit, sondern um die Mehrheit. Das kann nur bedeuten: Bei Wahlen zählt allein die Unverfrorenheit der Propaganda.

Und jetzt ans Eingemachte: Wenn es der grün-roten Regierung mit ihrer von der Propaganda und mit reichlich Geld manipulierten Volksabstimmung gelungen ist, die Mehrheit zu täuschen – dann ist es die verdammte Pflicht unserer Minderheit, die Wahrheit ans Licht zu bringen.

Wir haben die Wahrheit bei Gott nicht gepachtet. Aber wir können verhindern, dass man die Wahrheit vertuscht und die Mehrheit für dumm verkauft.

Dazu brauchen wir den Protest der Straße, dafür brauchen wir weiterhin – und erst recht nach der jüngsten Bundestagswahl – eine aufgeklärte, eine wachsame Bürgerbewegung.

Meine Damen und Herren, am Ende fast jeder Rede hören wir das Motto: „Oben bleiben“. Wir aber müssen darüber aufklären, was die da oben treiben, damit sie oben bleiben. In diesem Sinne: Die Straße lebt! Und sie ist bunt!

Vielen Dank.

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2 Antworten zu Rede von Joe Bauer bei der Samstagsdemo am 19.10.

  1. M.Z. sagt:

    Sehr geehrter Herr Bauer

    Bei Ihrer Kundgebungs-Rede am 19.10.2013 haben Sie sich bzgl. temporärer Aktivisten deutlich inhaltlich und im Ton vergriffen. Bei einer Protestbewegung ist es völlig normal, dass Leute kommen und gehen, bei einigen kann sich auch die berufl. Situation verändern, sodass nicht mehr viele Termine wahrgenommen werden können. Alle Aktivisten, die nicht mehr oder nicht mehr so oft dabei sind in einen Sack zu stecken und draufzuknüppeln ist dilettantisch und unfair. Viele haben sich jahrelang engagiert, und vielleicht den Mut verloren, doch diese aufs übelste zu denunzieren, war der falsche Weg. Das waren und sind Ihre eigenen Leute!!
    Schönen Tag, M.Z.

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