[UPDATE] Rede von Heinrich Steinfest bei der Samstagsdemo am 19.10.

Rede von Heinrich Steinfest, Schriftsteller, auf der Samstagsdemo am 19.10.2013 (vom Autor aktualisierte Fassung)

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

im 17. Jahrhundert erklärte ein englischer Staatsmann, der Marquess of Halifax, das Folgende: „Menschen werden nicht gehenkt, weil sie Pferde stehlen. Sie werden gehenkt, damit andere keine Pferde stehlen.“

Jetzt einmal abgesehen davon, daß wir uns zumindest in unseren Breitengraden von der anmaßenden Strafe des Aufknüpfens verabschiedet haben, so steckt doch in diesem prägnanten Satz das wichtige Prinzip einer Strafverfolgung, deren tiefer Sinn nicht die „Revanche“ oder „Rache“ darstellt, sondern die „Mahnung“ und „Warnung“ und der Glaube an die Belehrbarkeit und moralische Einsicht. Dies setzt natürlich voraus, daß zumindest der Wille besteht, einen größtmöglichen Zustand von Gerechtigkeit herzustellen und nicht etwa einen Unterschied zwischen Pferdediebstahl und Pferdediebstahl zu machen, also zwischen denen zu differenzieren, die aus privater Gier oder privater Not Pferde stehlen, und jenen, die dies im Zuge „mit allen Wassern gewaschener“ Finanztransaktionen unternehmen oder im Zuge politisch gewollter Delikte, die ganz sicher nicht von „Kavalieren“ stammen.

Um es unumwunden zu sagen: Bei Stuttgart 21 handelt es sich um einen Pferdediebstahl beziehungsweise um den Diebstahl eines ganzen Gestüts. Und genau darum sollte dieses Projekt in erster Linie eine juristisch relevante Angelegenheit sein. Denn so sehr allgemein von einem Ende der Großprojekte gesprochen wird, ist doch, juristisch gesehen, das Signal, das sich aus dieser ganzen „Affäre“ ergibt, ein ganz anderes: wie sehr nämlich doch ein Unterschied zwischen Pferdediebstahl und Pferdediebstahl besteht. Was jene, die Ähnliches vorhaben, nicht abschrecken, sondern eher ermutigen dürfte.

Es wurde in dieser Geschichte von den politisch Verantwortlichen immer wieder ein „Diskurs der Meinungen“ behauptet, bei dem sich eine bestimmte Meinung eben durchsetzt und eine andere nicht. Aber ist es nicht so, daß wenn ein krimineller Akt besteht, ein Betrugsfall, dies durch keine „Meinung“ und auch nicht durch eine gewonnene Abstimmung oder Wahl legitimiert wird? Das wäre nämlich Sinn und Zweck einer unabhängigen Justiz, in der Tat blind zu sein gegen irgendwelche Machtverhältnisse. – Oder hat etwa der österreichische Jurist Joseph Unger recht, wenn er sagte: „Das Recht hat die merkwürdige Eigenschaft, daß man es behalten kann, ohne es zu haben.“

Stuttgart 21 ist ein ungeahndetes Delikt, das sich schattengleich über die Stadt gelegt hat und nicht mehr weggeht. Es vergiftet in jeder Hinsicht diese Stadt. Und eben auch die Herzen der Bürger. – Jetzt ist nur die Frage, wer trägt Schuld an dieser Vergiftung. Etwa der Überbringer der schlechten Nachricht, also der bürgerliche wie unbürgerliche Widerstand? Und was war denn vorher? Liebe überall? Überall Lyrik und Rosenzucht? Überall CDUler und Gründenkende und Linksdenkende und Freidenkende, die in fröhlichem Ringelpietz durch die Stadt tanzten, jeder mit einem lustigen Hütchen auf dem Kopf, gebastelt aus den Seiten einer Stuttgarter Zeitung oder der Stuttgarter Nachrichten? Und dann kamen ein paar verbiesterte DB-Kunden und haben den Streit in die Idylle getragen?

Nein, die Friedhofsruhe zuvor war ja eine bloße Illusion, zudem hat die „Diskussionswut“ in dieser Stadt auf viele Menschen durchaus belebend, jungbrunnenartig und elektrisierend gewirkt. Aber wir wissen ja, auch Strom geht mitunter zur Neige. Ich meine also die vielzitierte Müdigkeit der einst so Bewegten. Aber es ist mehr als nur ein Energiedefizit, es sind eben auch Vergiftungserscheinungen.

Ich hatte etwas Bauchweh, als ich mich überreden ließ, hier vor Ihnen zu sprechen. Denn auch ich gehöre zu denen, die sich seit einiger Zeit sehr zurückhalten in Bezug auf den Protest und die sich in einem Zustand befinden, den man die „innere Emigration“ nennt. Für eine solche Zurückhaltung wurden viele Argumente gefunden, wobei man natürlich weiß, daß niemand von denen, die zuvor auf der Straße waren und jetzt zu Hause bleiben, seine Haltung zum Projekt geändert hat. Wie denn auch, wenn sich ständig zeigt, daß alle unsere Prognosen sich erfüllen, sich aber leider Gottes auch zeigt, wie wenig es nützt, daß sich Prognosen erfüllen und man eine gewisse Bedeutungslosigkeit der vielzitierten „Fakten“ und der nicht ganz so oft zitierten „Wahrheit“ erkennen muß.

Die „innere Emigration“ ist aber nicht einfach nur auf eine Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit zurückzuführen, sondern eben auf jene Vergiftungserscheinungen, die das Projekt Stuttgart 21 mit sich bringt. Das heißt, wenn sich Bürger dieser Stadt zurückziehen, dann, um sich zu entgiften. Das mag eine Illusion sein, weil das Geschwür sich ja immer mehr ausbreitet und sich ganz neue Politiker mit ganz neuen Ausreden und Beschwichtigungen einfinden werden; aber trotzdem besteht bei vielen von uns dieses Bedürfnis, sich zumindest für eine Weile herauszunehmen, um den toxischen Verabreichungen zu entgehen. Die Haut und den Kopf zu entlasten. Es gibt nicht wenige Leute, die den Eindruck hatten, von dieser ganzen Sache aufgefressen zu werden und Migräne zu bekommen, allein wenn sie die Buchstaben D und B sahen.

Was also bedeutet, sich dem Protest zu entziehen, nicht, weil man ihn für dumm oder unnötig oder überholt hält, sondern sich auf diese Weise das krankmachende Stuttgart-21-Toxin für eine Weile vom Leib zu halten.

Gar keine Frage, das ist eine biedermeierliche Haltung: die eigenen vier Wände, die Beschaulichkeit des Familiären, die Konzentration auf die eigenen Kinder, auf den Beruf, auf die Kunst, den Fußball, ja, das Bedürfnis, mit seinen Nachbarn sprechen zu können, ohne sich über Gleise und Haltezeiten in die Haare zu kriegen. Oder über die Schönheit oder die Häßlichkeit eines Bahnhofs debattieren zu müssen (ich staune immer wieder, wie auch kluge und belesene Menschen, die niemals den Wert eines Rembrandts oder Picassos in Frage stellen würden, bei diesem Bahnhof plötzlich überall „Nazis“ sehen oder „Playmobilritter“ – wie gesagt, man ist müde ob solcher Streitgespräche).

Aber Faktum ist ebenso: Solange die Stuttgart-21-Geschichte nicht beendet wird und eine notwendige juristische Behandlung vorgenommen wurde, wird die Vergiftung des „Stutengartens“ immer weiter fortschreiten. Man kann die Krankheit S21 nicht aussitzen, man kann sie nicht einmal herausschwitzen. Die Befürworter nicht und die Gegner nicht. Man kann die Luft anhalten, man kann sich eine Gasmaske aufsetzen, man kann statt über Gleise über den Zustand des VfB streiten ... der Pferdediebstahl aber bleibt bestehen. Und ohne Pferde ist diese Stadt nun mal schwer denkbar. Denn was hier neben allen Zerstörungen der Stadtlandschaft wirkt, ist eine Ur-Schuld, eine Ur-Wunde, die ganz sicher weder die Zeit heilt noch eine von wem auch immer gewonnene oder verlorene Wahl tilgt.

Ich weiß schon, irgendwann wird man diesen ganzen Mist, der hier geschehen ist, aufarbeiten und ganze Bücher darüber schreiben. Die Parteien werden sich die Schuld zuschieben, und so lange die Schuld hin und herschieben, bis die Schuld plötzlich ganz alleine auf einem großen Platz steht – sagen wir mal: dem Pariser Platz.

Darum möchte ich ein weiteres Mal einen englischen Staatsmann zitieren, William Gladstone, welcher postulierte: „Verzögerte Gerechtigkeit ist verweigerte Gerechtigkeit.“

Sehen Sie es bitte so: Jeder von Ihnen, der hier steht, hält den Platz warm für andere (mich eingeschlossen), die wieder dazustoßen werden, weil müssen. Das Gift zu ignorieren, ist leider keine Methode, um es zum Verschwinden zu bringen.

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