Rede von Peter Selig-Eder bei der 273. Montagsdemo

Rede von Peter Selig-Eder, Bezirksbeirat Stuttgart-Wangen, auf der 273. Montagsdemo am 1.6.2015

Stuttgart (21): Ein Fahrrad-Desaster!

Liebe Montagsdemonstranten,
vor Jahren unter schwarzer Regentschaft kursierte der Spott: „Stuttgart zwischen Hängen und Würgen“. Heute wäre diese Stadt gern eine Metropole des Fortschritts. In Wahrheit ist Stuttgart ein überfüllter Parkplatz, unter dem ein Bahnhof vergraben wird – zum Schutz gegen Feinstaub sagt der Zyniker. Oben bleibt alles beim Alten: Stau, Kampf um den freien Parkplatz und die schlechteste Luft in Deutschland – zwischen Hängen und Würgen eben.

Umso wichtiger ist es, dass wir heute zum 273. Mal die Radler auf der Mo-Demo begrüßen. Das ist der Fortschritt in unseren Reihen: Mobilität mit Null-Emission, ohne Krach und ohne Stau.

Trotz aller Absichtserklärungen hat sich auch unter einem Grünen OB die Situation für Fahrradfahrer nicht grundlegend verbessert:

  • Beispiel 1: mit Fertigstellung des Gerber wurde die Verlängerung der Fahrradstraße (Eberhardstraße – Tübingerstraße) versprochen. Das Gerber ist lange eröffnet, auf die Fahrradstraße warten wir bis heute und zwar an der extra langen Rotphase ausgerechnet für Radler am Ende der kurzen Fahrradstraße!! Und am anderen Ende „ist dem Autofahrer eine Vorfahrt für Radfahrer nicht zu vermitteln“. Also werden sie mit einem Stopp-Schild ausgebremst.
  • Beispiel 2: Am Charlottenplatz wurde der einzige barrierefreie Übergang über die B14 zwischen Landesbibliothek und Schlossgarten abgerissen; seither benötigen Radler und Fußgänger zwei Grünphasen, um die Stadtautobahn zu überqueren. Seit neuestem endet der Überweg vor einer Baustelle, so dass alle Radler und Fußgänger Richtung Osten und Neckarvororte über den Charlottenplatz müssen. Das führt zu einer drangvollen und gefährlichen Enge.
  • Beispiel 3: Die Hauptradverbindung Obere Neckarvororte in die Stadt führt in Wangen und Ostheim auf der Nähterstraße abseits der großen Straße – eigentlich ideal, bis der VW Hahn dort gebaut hat. Jetzt parken neben dem Radweg im Landschaftsschutzgebiet die Mitarbeiter von VW – übrigens unentgeltlich. Einen schönen Gruß an die Betroffenen vom Parkraummanagement. Sie müssen für die Parkplatzsuche zahlen!

Der Radverkehr wird in Stuttgart stiefmütterlich behandelt. Zwar sind fünf Hauptradwege ausgewiesen: Feuerbachertalweg, Höhenrundweg, Körschtalweg und Neckartalweg sind reine Freizeitradwege. Nur der Tallängsweg käme, wenn er durchgehend als Fahrradstraße ausgebaut wäre, als Hauptradweg zur Arbeit in die Stadt in Betracht.

Und eben diesen Tallängsweg unterbricht S21. Es wird künftig keinen Radweg mehr geben zwischen Cannstatt und der City – dem Radverkehr bleibt nur, sich zwischen Heilbronner Straße und B14 irgendwie durchzumogeln. So sieht der Fortschritt aus, den S21 den Radfahrern bringt.

Dabei ist das Fahrrad das ideale Fortbewegungsmittel in den Stau- und Feinstaub-geplagten Innenstädten. Bei einem Wirkungsgrad zwischen 70 und 90 Prozent verbraucht es die wenigste Bewegungsenergie pro bewegtem kg und km – weniger als alle anderen Verkehrsmittel. Im Gegensatz zum Autoverkehr bedeutet Radverkehr Null-Emission, also effektiv weniger Feinstaub, weniger Parkraum, keinen Lärm und insgesamt weniger Platzbedarf, also weniger Stau.

Vor noch nicht einmal 100 Jahren, war das Fahrrad das Hauptverkehrsmittel auf dem Weg zu Arbeit. In der Folge wurde es aus dem öffentlichen Raum systematisch verdrängt. Die erste Straßenverkehrsordnung in Deutschland führte die Radwegbenutzungspflicht ein. Damit waren die Straßen für Radfahrer de facto tabu, weil jeder Sonderweg unabhängig von seiner Beschaffenheit zu nutzen war.

Die Nazis rühmten sich anlässlich der Olympiade 36: „Zeigen wir dem staunenden Ausländer einen neuen Beweis für ein aufstrebendes Deutschland, in dem der Kraftfahrer nicht nur auf Autobahnen, sondern auf allen Straßen durch den Radfahrer freie, und sichere Bahn findet.“ Man sieht, der sogenannte verkehrspolitische Fortschritt hat eine lange Tradition. Mit S21 wird nicht nur das Fahrrad, sondern auch die Bahn aus dem öffentlichen Verkehrsraum verdrängt.

„Der Radfahrer behindert den Autoverkehr“, diese Einstellung hat sich bis heute in den Köpfen der Verkehrsplaner gehalten. Bester Beleg sind die Sicherheits- und Fahrradstreifen, die zur vermeintlichen Sicherheit der Radler angelegt werden: meist zu schmal, nicht geradlinig, oft unterbrochen, dann wieder zusammen mit den Fußgängern auf den Gehweg verbannt. Das lockt keinen einzigen Radfahrer mehr auf die Straße. Studien belegen, dass diese Streifen bestenfalls den Autoverkehr verlangsamen, aber nicht den Radverkehr fördern.

Eine Untersuchung des „Verbands Region Stuttgart“ zum Verkehrsverhalten aus dem Jahr 2010 offenbart dagegen interessante Fakten: Über 60% aller Fahrten mit dem Fahrrad liegen zwischen 1 und 10 km. Auch mehr als 60% aller Fahrstrecken mit dem Auto sind nicht länger als 10 km, mit einem Maximum bei 2 bis unter 5 km (26,6%). Das bedeutet

  1. 10 km ist also innerstädtisch eine übliche, machbare Radfahrentfernung;
  2. Man könnte bis zu 60% des Autoverkehrs in Stuttgart einsparen, wenn die Radwegeverbindungen so ausgebaut wären, dass Menschen aufs Rad umstiegen.

Zudem wird Radfahren durch die E-bikes noch attraktiver: Lasten können problemlos transportiert werden, ältere Menschen können das Rad nutzen, und die Topographie Stuttgarts ist endlich kein Argument mehr gegen das Radfahren.

Zahlen belegen: 2011 wurden 4 Mio. Fahrräder verkauft, davon waren fast 8% E-bikes. Im gleichen Zeitraum wurden 3,2 Mio. Autos zugelassen (fast ¼ weniger als verkaufte Fahrräder), aber davon waren nur 0,5% Elektro-Autos.

Aber niemand fördert E-Fahrräder, obwohl man hier bereits heute „mit grünen Ideen schwarze Zahlen“ schreibt. Alle Parteien singen das Hohelied der E-Mobilität, meinen aber immer und ausschließlich die Förderung der Elektro-Autos.

E-Autos seien emissionsfrei und damit Klima-neutral. Das ist schlicht nicht wahr. Die Herstellung der Batterien verbraucht endliche Ressourcen und sie müssen aufgeladen werden. Bezieht man diese Faktoren und den vorherrschenden Strommix aus Kohle, Öl, Atom, und erneuerbaren Energie ein, so kommt ein E-Auto in der Ökobilanz und damit bei den Schadstoffemissionen nicht besser weg als ein Diesel-PKW!! Das E-Fahrrad lässt wegen der kleineren Batterie, die nur einen Hilfsmotor treibt, und des insgesamt geringeren Gewichts in der Bilanz jedes E-Auto weit hinter sich!!

Warum werden trotzdem nur Elektro-Autos und keine Elektro-Fahrräder gefördert? Die Antwort ist denkbar einfach: diese Förderung nützt ausschließlich den Automobilkonzernen. Die strengeren Abgasnormen in der EU – gegen die die Autolobby unter Führung der Klimakanzlerin seit Jahren Sturm läuft – gelten nicht etwa für jedes einzelne Auto, sondern im Durchschnitt der gesamten Konzernflotte. Dabei fallen E-Autos mit dem Faktor 1,3 zudem besonders in Gewicht (Frau Merkel möchte sogar Faktor 3). Jedes Car2Go hilft somit dem Daimlerkonzern zu vertuschen, dass seine SUV`s die Abgasnormen überschreiten.

Was wäre also zu tun: schauen wir nochmal auf die erwähnte Mobilitätsstatistik und fragen, welches die Wege zwischen 1 und 10 km sind? Auch hier liegt die Antwort nahe: Wege zur Arbeit, zur Schule, zum Einkaufen zur Freizeit-Sport.

All diese Stätten müssten im Umkreis von 5 km mit wenigstens einer Fahrradstraße erschlossen werden; Straßen, auf denen der Radfahrer Vorrang vor dem Auto hat!

  1. Eine Radfahrstraße zu jeder Schule! Damit Kinder früh lernen, ein vernünftiges Verkehrsmittel zu nutzen; damit sie wieder einen Schulweg bekommen, wo sie Konflikte austragen statt im Klassenzimmer.
  2. Eine Radfahrstraße zu jeder Sport- und Freizeitstätte! Damit Sport nicht erst anfängt, wenn man auf dem Parkplatz das Auto verlässt.
  3. Fahrradstraßen aus allen Hauptrichtungen zu den Arbeitsplätzen in der City.
  4. An den erschlossenen Orten werden Autostellplätze in Fahrradstellplätze umgewandelt.

Und ganz zum Schluss will ich den Bogen zu S21 schließen mit einer Utopie. Wir wissen heute nicht, ob wir dieses unsinnige Projekt noch verhindern können. Aber was über der Erde passiert, darauf können wir Einfluss nehmen. Ich stelle mir einen neuen, einen autofreien Stadtteil vor; dort sind die Beziehungen zwischen Wohnen, Arbeiten Konsum und Freizeit so gestaltet, dass sie zu Fuß oder auf breiten Radwegen zu erreichen sind.

Die Verbindung nach außen stellt ein Netz von Haltestellen des öffentlichen Nahverkehrs sowie ein breites Angebot von Car-sharing Plätzen her.

In diesem Viertel würde unser alter Schlachtruf zur freundlichen Begrüßung zwischen Fußgängern und Radfahrern. So könnten wir Mut machen, die ganze Stadt zu Gunsten der Radfahrer und Fußgänger zu verändern.

Oben bleiben!

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