Rede von Carl Waßmuth, Gemeingut in BürgerInnenhand, auf der 349. Montagsdemo am 5.12.2016

Liebe, tapfere, beharrliche, ausdauernde Kämpferinnen und
Kämpfer gegen dieses Wahnsinnsprojekt genannt „Stuttgart 21“!

Danke, dass ich heute zu euch sprechen darf. Mit diesen Montagsdemonstrationen gebt ihr der Demokratie etwas zurück, das uns die Parteien gestohlen haben: das freie Wort zu den Anliegen, die uns am Herzen liegen.

Ich werde zunächst nicht zu Stuttgart sprechen und auch nicht zur Bahn. Ich werde zu den Autobahnen sprechen. Genauer zur Autobahnprivatisierung. Aber ich verspreche: es gibt eine Verbindung zu diesem zerstörerischen Großprojekt. Die Verbindung besteht in der Privatisierung, denn die Autobahnen sollen privatisiert werden. Und zwar schon diese Woche.

Ich weiß: Viele Zeitungen, ja selbst die Tagesschau hat berichtet: Die Autobahnprivatisierung wäre gestoppt worden. Ja, Sigmar Gabriel, der die Autobahnprivatisierung vor zwei Jahren selbst angestoßen hatte, soll diesen Stopp höchstpersönlich verfügt haben – gegen den Willen von Wolfgang Schäuble. Ich muss euch leider sagen: Nichts davon stimmt. Die Autobahnen werden privatisiert, und zwar genau so wie vorgesehen – wie von Gabriel vorgesehen, und wie von Schäuble vorgesehen.

Am Freitag will die Bundesregierung dazu eine gewaltige Grundgesetzänderung verabschieden, elf GG-Artikel werden umgeschrieben. Dazu kommt ein umfassendes Begleitgesetz, bestehend aus der Änderung von 23 einzelnen Gesetzen. Danach kommen noch Bundestag und Bundesrat. Da kann man das Vorhaben vielleicht noch aufhalten. Aber am Freitag wird es aufs Gleis gesetzt. Deswegen will ich heute davon sprechen.

Die Sache mit „Gabriel stoppt die Privatisierung“ war Theater. Die Regierung weiß: Privatisierungen sind extrem unbeliebt. Also haben sie eine Privatisierungsform präsentiert, deren Durchsetzung völlig unrealistisch war: Den Verkauf der Autobahnen und der Gesellschaft, die sie betreibt. Das wäre so, als hätte man 1994 die Bahn nicht nur formell privatisiert, sondern die DB AG samt Streckennetz an die Börse gebracht. Diese (Teil-)Verkäufe hat Gabriel gestoppt. Eine wahre Heldentat! Gabriel weiß ja, dass alles, was die Finanzmärkte interessiert, auf einem anderen Weg privatisiert werden kann: Über Öffentlich-Private Partnerschaften, ÖPP, oder Englisch: Public Private Partnerships, PPP. Und genau das wird ermöglicht mit der Grundgesetzänderung am Freitag, mit den umfangreichen Begleitgesetzen.

Bei ÖPP bekommt ein privates Konsortium für 30 Jahre den Auftrag, ein Stück Autobahn auszubauen, instand zu halten und zu betreiben. Dazu bekommen die Privaten viel Geld. Der Bundesrechnungshof hat ausgerechnet, dass die Privaten im Schnitt 40 Prozent mehr bekommen, als wir bisher dafür ausgeben. Und dabei hat kein ÖPP-Vertrag in Deutschland schon sein dickes Vertragsende erreicht. Das Ende, an dem vielleicht offenbar wird, dass die Brücken und Straßen doch nicht gut gewartet wurden. Dass eine teure Grundsanierung nötig wäre.

Schon heute gibt es ÖPP. Aber es sollen noch viel mehr werden, zehnmal mehr. Wichtige Voraussetzung für eine solche Ausweitung von ÖPP ist, dass die Autobahnverwaltung formell privatisiert wird. Und damit bin ich bei euch, bei Stuttgart 21 und bei der Deutschen Bahn AG.

1994 wurde die Bahn „nur“ formell privatisiert. Aus der Bundesbahn wurde die DB AG. 2016 sollen die Autobahnen formell privatisiert werden. Die Bundesautobahnen sollen künftig von so etwas wie einer „DA AG“, eine „Deutsche Autobahn AG“ verwaltet werden. Die Bundesregierung hat sich einen anderen Namen ausgesucht: „Infrastrukturgesellschaft Verkehr“.

Der Name ist allerdings irreführend: Es geht darin weder um Fußverkehr, Radverkehr oder Bahnverkehr. Erst recht nicht um Schifffahrt oder Luftfahrt. Es geht nicht einmal um den Autoverkehr auf 98 Prozent unserer Straßen, den insgesamt 660.000 Kilometern Bundesstraßen, Landesstraßen, Kreisstraßen und kommunale Straßen. Es geht allein um die 13.000 Kilometer Autobahn und 2.000 Kilometer autobahnähnlicher Bundesstraßen. Es geht ein wenig um die Maut, die dort bezahlt wird. Vor allem aber geht es um die vielen Milliarden Euro, die der Bund jährlich aus unseren Steuergeldern für die Autobahnen bezahlt.

Die formelle Privatisierung der Bahn 1994 war ein extrem zerstörerisches Unterfangen. Als Opel gerettet werden sollte, ging es um 6.000 Arbeitsplätze. Bei der Bahn wurden in wenigen Jahren über 100.000 Arbeitsplätze vernichtet. Die Zerstörung ging weiter mit dem Abbau des Streckennetzes. Was dort nicht stillgelegt wurde, verfällt seit 20 Jahren dramatisch. Brücken, Tunnel, Bahnhofsgebäude auf dem Land. Zerstört wurden auch viele Überholgleise und drei Viertel aller Gleisanschlüsse. Ganze Regionen veröden, wurden von Wirtschaft und Tourismus abgehängt. Zerstört wurde eine ganz Zuggattung: Der Interregio. Samt der Verschrottung vieler intakter Interregio-Wagen, die „die Konkurrenz“ nicht in die Hände bekommen sollte. Zerstört wird jetzt das Nachtzugsystem: Ich fahre nachher mit einem der letzten Nachtzüge zurück. Wenn ich das nächste Mal bei euch bin, muss ich für den Rückweg das Flugzeug nehmen oder einen Arbeitstag opfern.

Zur Zerstörung gehörte auch die Verschleuderung: von innerstädtischen Grundstücken, von Tochterfirmen wie Scandlines, Schenker (später teuer wieder zurückgekauft!), von der „Deutschen Eisenbahn-Reklame“ die heute in Zügen und auf Bahnhöfen Werbung für Autos machen darf. 1994 wurde auch der Weg freigemacht für die Verschleuderung eines Großteils der Bahnhöfe, die von der Bahn vorher sprachlich zu „Empfangsgebäuden“ degradiert worden waren. Und natürlich ermöglichte erst die formelle Privatisierung der Bahn die Zerstörung der Stuttgarter Innenstadt, des Schlossparks, des historischen Hauptbahnhofs. Vielleicht sogar der Mineralquellen in Stuttgart.

Die DB konnte und durfte diese Zerstörungen vornehmen mit massiver Unterstützung des Bundes. Jedes Jahr fließen Milliarden Euro aus Steuergeldern an die Bahn. Die Einnahmen aus den Fahrkarten, aus der Vermietung der verbliebenen Bahnhöfe, die zu Einkaufscentern wurden, kommen dazu. In der Summe wurde er Verkehrsträger Bahn zu dem, was er heute ist: Statt zu einer wachsenden Alternative, einer Hoffnung zur Einhaltung von Klimazielen wurde die Bahn ein kundenfeindliches Unternehmen, unzuverlässig, unpünktlich, mit Zugverbindungen, die sich von Jahr zu Jahr verlängern, Skandal auf Skandal produzierend, und in all dem ohne jede Scham selbstherrlich.

Nun sollen auch die Autobahnen formell privatisiert werden, nahezu genauso wie die Bahn. Statt der DB AG mit einer DA AG. Statt eines Eisenbahnbundesamtes, eines EBA, mit einem Autobahnbundesamt, einem ABA. Kommt jetzt die ausgleichende Gerechtigkeit? Werden jetzt die Autobahnen so verramscht und abgebaut wie seit 20 Jahren die Bahngleise? Werden die Raststätten so mit Brettern vernagelt wie viele unserer Bahnhöfe? Wird den Autofahrern das Autofahren so verleidet wie vielen Menschen das Bahnfahren verleidet und schwergemacht wurde? Werden jetzt Ausfahrten für Lkws geschlossen, wie bei der Kappung der Industriegleisanschlüsse?

Ich habe seit 20 Jahren kein Auto mehr. Ich kämpfe mit anderen für eine Verkehrswende, für einen Ausstieg aus dem Wahn des sogenannten „motorisierten Individualverkehrs“. Gleichzeitig bin ich mir sicher: Die Autobahnprivatisierung wird mir diese Vision nicht erfüllen. Eher noch schenkt uns der Weihnachtsmann die Verkehrswende. Warum? Warum wurde und wird mit der Bahnprivatisierung der Bahnverkehr zerstört und mit der Autobahnprivatisierung auch der Bahnverkehr?

Privatisierung bedeutet dreierlei:

  • Die Ausschaltung der demokratischen Kontrolle.
  • Kapitalmärkte bekommen Zugriff auf öffentliche Gelder und öffentliches Vermögen.
  • Der Staat wird transformiert: Die öffentliche Verwaltung geschwächt, der starke Arm des Gesetzes wird zum Geldeintreiber und Beschützer privater Interessen. Zusammen wirkt das sich zerstörerisch auf Gemeingüter aus. Die Zerstörung eines bestimmten Gutes ist allerdings nicht eingeschrieben. Es ist denen, die Gemeingüter in die Hände bekommen, überlassen, was sie damit treiben. Die Bahn wurde in die Hände der Luftfahrt- und Autoindustrie gegeben, siehe die Besetzung des Aufsichtsrats und der zahllosen Vorstände. Die Autobahnen könnten ebenfalls in die Hände dieser Industrien kommen!
    Es kann aber auch jemand anderer sein. Hedgefonds mit Sitz in Steueroasen? Natürlich ist das möglich! Es ist ja jetzt schon teilweise so. Einzelne ÖPP-Abschnitte werden von Kapitalgesellschaften geführt, die in Luxemburg ansässig sind. Sicher ist: Es werden keine weißen Ritter einsteigen, die uns helfen, unser umweltschädliches Verkehrssystem zu reformieren. Die, die Kapital investieren werden, sichern sich einen steten Geldfluss aus Steuern und Gebühren. Und wenn die dafür benötigte Summe größer ist als der ganze Verkehrshaushalt, Fuß-, Rad- und Bahnverkehr inklusive, dann werden sie auf die Einhaltung ihrer Verträge pochen. Oder sogar den Staat verklagen. Vielleicht hat eine der sogenannten Investoren seinen Sitz in Kanada. Dann gilt der Investorenschutz aus dem CETA-Vertrag.

In gewisser Hinsicht wird die Autobahnprivatisierung sogar schlimmer werden als die Bahnprivatisierung. Ich weiß, das ist kaum vorstellbar. Aber es lässt sich leicht erklären: Die Bahn wurde 1994 formell privatisiert. Materiell blieb sie zu 100 Prozent in Bundeseigentum. Auch weil ihr hier in Stuttgart geholfen habt, den Börsengang der Bahn lange aufzuhalten. Zusammen mit vielen anderen Menschen haben wir das 2006 bis 2008 gemacht – ich war auch dabei. Nur deswegen ist der geplante Börsengang der Bahn – der Börsenprospekt war schon gedruckt – über die ICE-Achsbrüche und über die Finanzkrise gestolpert.

Um also das Steuergeld aus der Bahn herauszutransferieren, brauchte es viele fintenreiche Wege. Stuttgart 21 ist einer davon, der Unter-Wert-Verkauf so vieler, für den Bahnverkehr wichtiger Unternehmensteile ein anderer. Bei der Autobahnprivatisierung wird es für die Kapitalmärkte deutlich einfacher werden, an unser Steuergeld zu kommen. Denn genau dazu wurde die neue Privatisierungsform, wurden Öffentlich-Private Partnerschaften, ÖPP, entwickelt und bis ins Letzte ausgefeilt.

Das Geld wird uns fehlen für viele notwendige Projekte. Die wegprivatisierte Mitbestimmung im Verkehrswesen wird uns fehlen. Das Grundgesetz wird nicht so einfach zurückzuändern sein. Deswegen bitte ich euch: Nehmt das nicht hin! Helft mit, aufzuklären, dass die Autobahnprivatisierung noch nicht gestoppt ist – viele denken das. Helft mit, darüber aufzuklären, dass die Autobahnprivatisierung keine Sache ist, die man den Autofahrenden schon lange wünschen musste – und die uns und einer Verkehrswende nützen wird. Helft mit, darüber aufzuklären, dass die Bundesregierung für diese Privatisierung das Grundgesetz umpflügen will. Verteilt unsere Infozeitung, tragt euch in unseren Infobrief auf www.gemeingut.org ein, macht mit bei den Aktionen, die wir und andere dazu anregen, macht eigene Aktionen!

Verhindert werden kann diese Grundgesetzänderung, diese Autobahnprivatisierung auf zwei Wegen:

  • Wenn die Bundesregierung, wenn einzelne Minister oder einzelne Regierungsparteien Angst bekommen, für die Privatisierung an der Wahlurne abgestraft zu werden.
  • Verhindert werden kann diese Grundgesetzänderung auch über den Bundesrat. Baden-Württemberg muss nein sagen zu diesem Wahnsinn! Fordert, dass der Landtag das beschließt. Fordert, dass Kretschmann das öffentlich sagt. Wenn alle Bundesländer mit grüner Regierungsbeteiligung nein sagen, fällt die Autobahnprivatisierung aus.
Dieser Beitrag wurde unter Allgemein abgelegt und mit , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.