Rede von Dr. Winfried Wolf, Verkehrsexperte, Journalist, Herausgeber von ‚Lunapark21‘, auf der 350. Montagsdemo am 12.12.2016

Liebe Freundinnen und Freunde der Bewegung gegen Stuttgart 21,

vorgestern, am 10. Dezember, verabschiedeten wir am Berliner Hauptbahnhof den letzten Nachtzug, der von Berlin in die Schweiz fuhr. Es war eine kleine Demo mit rund 100 Leuten und einer wunderbaren Samba-Trommler-Truppe. Als Gast oder auch als eine Art Zaungast mit dabei: Sandra Maischberger. Sie hatte zuvor in der „Berliner Zeitung“ erklärt: „Seit meiner Jugend reise ich regelmäßig mit dem Nachtzug […] quer durch Europa. […] Angesichts der Auslastung ist es mir schleierhaft, warum die DB diese Züge nicht wirtschaftlich betreiben kann.“

Am Rande der Demo fragte mich Frau Maischberger, wie es denn in Stuttgart mit Stuttgart 21 weitergehe. Ich sagte: „Stuttgart 21 wird nie fertiggebaut“. Was dann daraus würde, so ihre Frage. „Eine Investitionsruine oder ein kreativer Umbau.“ So meine Antwort, wobei ich auf das ausgezeichnete neue Programm „Umstieg 21“ verwies und sagte, das Spannende sei auch, dass wir in Stuttgart „nicht nur Nein-Sager“ seien. Jetzt aktuell, mit der kommenden 350. Montagsdemo und der Aufsichtsratssitzung am 14. Dezember sei eine entscheidende Situation gegeben.

In meiner Montagsdemo-Rede am 16. Juli sprach ich bereits über die „fünf Krisen des Projekts Stuttgart 21“. Damals sagte ich bereits, dass die aktuelle Krise eine entscheidende sei. Und vor ein paar Minuten stellte mir und Volker Lösch ein Journalist des SWR die naheliegende Frage, ob das nicht eine „Krise wie so viele andere zuvor“ sei; ob es danach nicht irgendwie weitergehe mit S21 … bis zur 400. oder 450. Montagsdemo…. Und ich erklärte auch ihm, dass der Charakter dieser aktuellen Krise schon ein besonderer sei.
Und warum das so ist, möchte ich in dieser Rede nochmals genauer darlegen – hinsichtlich der Bundesebene und der Deutschen Bahn, hinsichtlich der Landesebene und dem Projekt im Allgemeinen und hinsichtlich des konkreten Projekts und dabei hinsichtlich des neuen KPMG-Gutachtens.

Zur Bundesebene und zur Deutschen Bahn im Allgemeinen

Vor sechs Jahren, 2010, hatten wir eine neue Bundesregierung, die GroKo II, mit einem relativ tatendürstigen Spitzenduo Merkel-Gabriel. Wir hatten einen neuen Bahnchef Rüdiger Grube, der medienclever auftrat. Und wir hatten eine Deutsche Bahn AG, die zumindest in ihren Bilanzen fette Gewinne auswies.

Heute, Ende 2016, sieht das alles ziemlich anders aus: Wir haben eine abgekämpfte und ausgelaugte Bundesregierung. Die DB befindet sich in einem maroden Zustand und in einer finanziellen Krise mit bald 20 Milliarden Euro Schulden und einem Verlust von 1,5 Milliarden Euro 2015. Im Oktober scheiterte der Versuch, Anteile der Bahntöchter Schenker und Arriva zu verkaufen und auf diese klammheimliche Weise eine Teilprivatisierung zu erreichen. Alexander Dobrindt musste kurzfristig der Bahn Sonderzuschüsse in Höhe von 2,3 Milliarden Euro zusagen. Rüdiger Grube an der Bahnspitze ist eine ausgesprochen blasse Figur, eine sprichwörtliche „lahme Ente“. Aktuell läuft eine Tarifrunde und es kann gut sein, dass wir im kommenden Februar oder März einen neuen Bahnstreik der Gewerkschaft des Zugpersonals, der GDL, erleben werden – eine spannende Konstellation, weil das inmitten des beginnenden Bundestagswahlkampfs sein würde. Und wir haben Medien, die inzwischen die Deutsche Bahn erneut – wie in der Endzeit von Mehdorn – höchst kritisch sehen.

Das heißt in der Summe: Die Grube-Bahn ist zur alten Mehdorn-Bahn verkommen. Sie ist bundesweit unglaubwürdig. Sie wird des Öfteren als eine Fälscherwerkstatt der gelieferten Fakten und Daten enttarnt, was wir gerade bei den Nachtzügen erneut dokumentieren konnten. So wurde uns vorgestern aus dem Bahnmanagement ein Papier zugespielt, aus dem hervorgeht: Die Zahl der Fahrgäste in den Nachtzügen ist gerade im ablaufenden Jahr 2016 deutlich gestiegen. Die Deutsche Bahn AG hatte fortwährend das Gegenteil behauptet. Dort steht auch, dass das (behauptete) Defizit der Sparte abgebaut wurde. Und wir wissen – und das Top-Bahnmanagement weiß das – dass die Trassenpreise für Nachtzüge ab dem 1.1. 2018 deutlich gesenkt werden, dass spätestens dann die Nachtzugsparte auch nach den Berechnungsgrundlagen der DB eine positive Bilanz haben würde.

Dennoch wurde die Zugsparte mit dem gestrigen Fahrplanwechsel komplett stillgelegt. Es handelt sich wohlgemerkt bei den Nachtzügen um einen Baustein des Gesamtsystems Schiene, der seit rund 130 Jahren zum festen Bestand gehört.

Wenn ich sage, die angeblich ganz neue, kundennahe Grube-Bahn sei die ganz ordinäre Mehdorn-Bahn geworden, dann heißt das auch: Es ist eine höchst unsoziale Bahn. Eine Bahn, die rücksichtslos gegen Fahrgäste und Beschäftigte agiert. Bis zum heutigen Tag ist die Deutsche Bahn AG nicht bereit, den noch mehr als 300 Beschäftigten ihrer Nachtzugsparte DB ERS, die ab 1.1. 2017 vor dem existenziellen Nichts stehen, einen vollwertigen Arbeitsplatz im Konzern zu gleichem Einkommensniveau anzubieten. Wir protestieren auf dieser 350. Montagdemo gegen dieses Verhalten und fordern: Herr Grube: Beenden Sie diesen skandalösen Umgang mit den Bahnbeschäftigten; gewähren Sie umgehend eine solche Jobgarantie für die ERS-Kolleginnen und Kollegen!

Zur Landesebene und zu Stuttgart 21 im Allgemeinen

Vor sechs Jahren waren die Grünen hier im Land noch Teil der Bewegung gegen Stuttgart 21. Kurz danach, ab März 2011, waren sie führende Regierungspartei. Damit gab es in der Bewegung gegen Stuttgart 21 enorme Hoffnungen, ja Illusionen, wie sich bald darauf erwies. Denn wir mussten ab Sommer 2011 feststellen: Alle Landtagsparteien agierten nunmehr pro Stuttgart 21 oder sie begleiteten das Projekt mal mehr, vor allem jedoch immer weniger „kritisch“. Die CDU war die traditionelle S21-Partei. Die SPD agierte als Hardcore-S21-Partei. Für die Grünen galt „halb zog sie ihn, halb sank er hin“ Das wirkte auf uns, auf die Bewegung, jahrelang entwaffnend.

Ende 2016 haben wir eine erheblich veränderte Situation. Die grün-schwarze Landesregierung wird zu Recht als eine rechte Regierung wahrgenommen, als eine S21-Vollstrecker-Regierung. Die SPD erlebt als Oppositionspartei möglicherweise eine Neubesinnung unter der neuen Landesvorsitzenden Leni Breymaier. Illusionen in die Grünen hat hier in der Bewegung gegen Stuttgart 21 wohl niemand mehr. Winfried Hermann sagte neulich wörtlich: „Die begonnene Zusammenarbeit mit den Projektpartnern [beim Projekt Stuttgart 21; W.W.] wollen wir auf alle Fälle fortsetzen […] Mit Stuttgart 21 sind ja noch nicht alle Probleme auf einen Schlag gelöst.“ Und Volker Kefer konnte auf derselben Pressekonferenz des S21-Lenkungskreises unwidersprochen hinzufügen: „Über die Leistungsfähigkeit des neuen Bahnhofs herrscht im Lenkungskreis Einigkeit.“ (Stuttgarter Zeitung vom 7. November 2016).

Und dann gibt es da noch die neue Klage der DB gegen das Land Baden-Württemberg und gegen die Stadt Stuttgart, wonach die Mehrkosten des Projekts von diesen beiden „Partnern“ mitzutragen seien. Das dürfte zukünftig noch für erhebliche Spannungen sorgen. Und es könnten damit Milliarden zusätzliche S21-Kosten auf Land und Stadt zurollen.
Bilanz: Die Autorität von Grün-Schwarz beim Projekt Stuttgart 21 tendiert gegen Null. OB Kuhn und die Grünen gelten inzwischen als Teil der Proler. Hinsichtlich des Ansehens von Ministerpräsident Kretschmann gilt sein gesprochenes Wort: „Dr Käs isch gesse“.

Ausgesprochen beschämend ist das Verhalten der Landesregierung hinsichtlich der Opfer des Polizeiüberfalls auf friedlich Demonstrierende am 30. September 2010. Die Landesregierung übergab die Schmerzensgeld-Regelung denjenigen, die den Überfall mit durchgeführt hatten, an die Polizei selbst. Unzumutbar ist das aktuelle Angebot, dem am stärksten betroffenen Opfer, dem weitgehend erblindeten Dietrich Wagner, nicht einmal eine feste Zusatzrente zuzusagen. Und richtig unverschämt ist es, wenn die Polizei weiterhin davon spricht, die Opfer trügen eine „Mitschuld“, weil sie den Platz nicht freiwillig und rechtzeitig geräumt hätten. Dafür gebührt der Stuttgarter Polizei und der Landesregierung ein Stefan-Mappus-Verdienstorden für notorische Bösartigkeit.

Zum Projekt Stuttgart 21 im Konkreten und zum neuen KPMG-Gutachten.
Vor sechs Jahren schien Stuttgart 21 durchfinanziert; es galt der „Kostendeckel 4,5 Milliarden Euro“. Vor fünf Jahren, nach dem Volksentscheid, schien Stuttgart 21 auch legitimiert. In der Folge konnte sich Volker Kefer durch alle neuen Stuttgart-21-Krisen hindurch lächeln.

Heute, Ende 2016, haben wir auch hier eine völlig veränderte Lage. Die Kosten sind offiziell auf 6,5 Milliarden Euro angestiegen. Noch im Juni musste Kefer im Aufsichtsrat eingestehen, dass es inzwischen auch kaum mehr einen Puffer geben würde. Jeder vernünftige Mensch weiß damit – auch noch ohne jedes neue Gutachten – dass damit die Kosten bis 2021, 2022 oder 2023 deutlich diese Grenze von 6,5 Mrd. Euro überschreiten werden. Nun haben wir seit Oktober 2016 das neue Gutachten des Bundesrechnungshofs. Dieser geht in seinem „Prüfbericht“ davon aus, dass die tatsächlichen Kosten zwischen neun und zehn Milliarden Euro liegen – das ist das Doppelte dessen, was 2011 im Volksentscheid als „Kostendeckel“ galt.

Und dann gab es gestern dies: Volker Kefer geht – und als neuer Infrastrukturchef kommt: Ronald Pofalla. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hatte zuvor bereits geschrieben: „Kefers Abgang ist gravierend für Stuttgart 21“ (16.6.2016). Man kann ergänzen: Die Übernahme dieser Vorstandsposition durch Herrn Pofalla dürfte sich als „gravierend“ erweisen.

Kefer war sicher ein krummer Hund. Aber halt auch ein harter Hund. Und er war in vielerlei Hinsicht ein Mann vom Fach und mit einigem Sachverstand. Er nutzte dieses Herrschaftswissen vielfach gegen uns – und gegen die Durchsetzung von Vernunft beim S21-Projekt. Pofalla dagegen hat keinerlei fachliche Kompetenz. Das ist der reine politische Apparatschik.

Vielleicht erinnern sich einige unter Euch an den österreichischen Präsidenten Kurt Waldheim. Der hatte seine NS-Vergangenheit, so die Mitgliedschaft in der SA und in einer NS-Reiterstaffel, immer geleugnet. Darauf zimmerte der Wiener Künstler Alfred Hrdlicka ein großes hölzernes Pferd. Und immer, wenn Waldheim auf der internationalen Bühne – in Rom oder in Kairo – auftrat, war dieses Pferd anwesend und erinnerte an den Skandal. Am Ende verfügten die USA ein Einreiseverbot für Waldheim.

Ich finde: Wir sollten einen überdimensionalen Montblanc-Luxus-Füllfederhalter bauen. Und immer, wenn Herr Pofalla, der neue Herr über Stuttgart 21, irgendwo auftritt, müsste dieser monströse Füllfederhalter aufgestellt werden, um an dessen Montblanc-Affäre und daran zu erinnern, dass der Mann eine karrieregeile Karikatur, inkompetent und vor allem korrupt ist.

Zurück zum Projekt Stuttgart 21 selbst. Auf den Gipfel trieb es jüngst Herr Grube, als er im scheinbar geschlossenen Kreis von Bahnmanagern äußerte: „Stuttgart 21 wurde nicht von der Bahn erfunden.“ Er, Grube, hätte das „auch nicht gemacht.“

Das ist grotesk. Es war der Bahnchef Heinz Dürr, der das Projekt erfunden und im April 1994 verkündet hatte. Es war der Bahnchef Hartmut Mehdorn, der das Projekt neu aktiviert hatte, nachdem es vom Kurzeitbahnchef Johannes Ludewig auf Eis gelegt worden war. Und es war vor allem Bahnchef Rüdiger Grube, der seit Mai 2009 alle wichtigen Phasen des Projekts Stuttgart 21 eingeleitet, begleitet und euphorisch verkündet hatte: Angefangen mit der Anhebung des Prellbocks als Baubeginn 2010 bis hin zur Grundsteinlegung des Tiefbahnhofs vor ein paar Wochen hier in Stuttgart. Wir fordern von diesem Herrn: Herr Grube, seien Sie nicht feige! Bekennen Sie sich zu Ihrem entscheidenden Fehler und verkünden sie öffentlich das Aus für Stuttgart 21, anstatt sich heimlich aus der Verantwortung zu stehlen.

Liebe Freundinnen, liebe Freunde,

übermorgen wird es also im Aufsichtsrat eine neue wichtige Entscheidung zu Stuttgart 21 geben. Große Hoffnungen setzen Vorstand und die Spitze des Aufsichtsrats dabei auf das neue KPMG-Gutachten. Dieses wird wie eine Wunderwaffe behandelt, als eine Art KPMG-V2. Und wie es sich für eine solche Wunderwaffe gehört, ist das Gutachten topgeheim. Nun gibt es zum Glück in den oberen Etagen der Bahn noch ein paar Wenige, die sich den Grundsätzen von Transparenz und Demokratie verpflichtet fühlen. Und so ist das Dokument seit einer Woche öffentlich; Thomas Wüpper berichtete darüber in der Stuttgarter Zeitung, der SWR brachte dazu eine Sendung. Und in der Zeit wurde kommentiert, nun sei es definitiv Zeit, bei Stuttgart 21 auszusteigen.

Solange wir keinen Zugang zu dem Text hatten, hieß es in den Medien: Das KPMG-Gutachten „bestätigt die Deutsche Bahn AG“; die Kosten lägen damit bei „6,3 bis 6,7 Milliarden Euro“. Selbst Winfried Hermann verstieg sich jüngst zu der Aussage: Wahrscheinlicher als die Kalkulation des Bundesrechnungshofs mit mehr als 9 Milliarden Euro sei, „dass das Projekt [Stuttgart 21] in dem von KPMG vorhergesagten Rahmen abgeschlossen wird.“ (Stuttgarter Zeitung vom 7. November 2016).

Bis vor einer Woche konnten wir dazu wenig sagen. Wir konnten „nur“ fragen: Warum ist das ein geheimes Gutachten, wenn es die Bahn bestätigen sollte? Warum wurde KPMG beauftragt? Eine Beratungsgesellschaft, die ein enormes Interesse daran haben muss, demnächst den Auftrag zur Bilanzprüfung der Deutschen Bahn AG zu erhalten? Warum KPMG, die bereits vor gut einem Jahrzehnt ein Gefälligkeitsgutachten erstellt hatten für den Finanzinvestor One Equity Partners (OEP), als es darum ging, dass OEP das Unternehmen Südchemie übernehmen wollte – und dann auch übernahm. Hier muss man wissen: Der Aufsichtsratsvorsitzende der Deutschen Bahn AG, Utz-Hellmuth Felcht, ist im Hauptberuf ein Top-Mann bei der Heuschrecke OEP.

Jetzt haben wir seit gut einer Woche auch hier eine neue Situation. Und es erweist sich: Die Geheimwaffe KPMG-V2-Gutachten erweist sich als Rohrkrepierer für die Proler.
Nun ist eine Demo-Rede nicht der Ort für eine Gutachten-Analyse. Hierfür gibt es ausführlichere Analysen an anderer Stelle und zum Teil von anderen. Ich schrieb hierzu in KONTEXT. Es gibt ausgezeichnete Ausarbeitungen dazu von Eisenhart von Loeper und von den Herren Ralf Laternser und Hans Heydemann. Und schließlich sandte die Bahnfachleutegruppe Bürgerbahn statt Börsenbahn – BsB – am vergangenen Freitag eine von mir verfasste Analyse des KPMG-Gutachtens an alle Mitglieder des Aufsichtsrats der DB AG; dieser Text wurde heute von der Fraktion SÖS-LINKE-PluS im Stuttgarter Rathaus online gestellt.

Für unsere Zwecke, hier auf der 350. Montagsdemo, sollen drei Aspekte ausreichen, um dieses Gutachten werten zu können:

Erstens hinsichtlich der Grundlagen. In dem KPMG-Gutachten wird seitenlang dargestellt, was die Gutachter alles nicht sehen durften, wollten oder konnten. Alle Unterlagen standen ihnen „nur digital“ zur Verfügung. Sie konnten „keine Einsicht in den [S21-] Finanzierungsvertrag nehmen“. Sie hätten „auf die Einholung einer Vollständigkeitserklärung verzichtet“ (man wollte es offensichtlich so genau gar nicht wissen). Und dann stehen da die Sätze: „Demzufolge erteilen wir kein Testat.“ Man könne „nicht ausschließen, dass wir bei Kenntnis weiterer Informationen zu einem anderen Ergebnis gelangt wären.“ (Zitate dort Seiten 32 und 38).
ist der absolute Offenbarungseid. Gesagt wird: Auf der Basis dessen, was wir sahen, sagen wir, alles gut. Es kann aber gut sein, dass wir anderes sagen würden, wenn wir anderes gezeigt bekommen würden.

Zweitens hinsichtlich der Gesamtkosten. Richtig ist: Vorne in der Zusammenfassung und hinten in dem Gutachten heißt es genau vier Mal, die Gesamtkosten lägen wohl bei „6,3 bis 6,7 Milliarden Euro“. Doch das hat den Charakter eines Mantras, eines Auftragsgutachtens. Zumal es im Innenteil ein Dutzend und mehr Passagen gibt, in denen festgestellt wird, welche Kosten man nicht berücksichtigt habe. Nicht berücksichtigt wurden die zusätzlichen Kosten „aus dem Filderdialog“; nicht berücksichtigt wurden die Kosten „für den Fernbahnhof“ am Flughafen. Man habe feststellen müssen, dass die „Chancen zur Kostenreduktion“, die die DB AG in ihren Rechnungen als real unterstellt, „bis zum 1. Quartal 2016 nicht realisiert wurden.“

Dann heißt es, die DB habe versichert, eine zweite Schicht einzuführen; gearbeitet würde in Bälde „von 4 bis 14 Uhr und von 14 Uhr bis 24 Uhr“. In diesem Zusammenhang habe das Unternehmen Züblin zugesichert, es entstünden „keine Zusatzkosten“. Was wohl heißt: Züblin will mit syrischen Flüchtlingen zu eritreischen Mindestlöhnen arbeiten lassen. Wobei der Nachtlärm dann nicht gedämpft, sondern 1:1 gewährleistet wird.

Am Ende, auf Seite 131 des KPMG-Gutachtens steht: „Insgesamt kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Finanzierungsrahmen aufgrund der beschriebenen Effekte nicht ausreichend ist.“ Das wiederum heißt: Die KPMG-Truppe sagt, es sind insgesamt maximal 6,7 Milliarden Euro, es sei denn, es werden mehr.

Drittens hinsichtlich des Gipskeupers. Der spannendste Aspekt, das echt Brisante an dem KPMG-Gutachten sind die Passagen zu Anhydrit, zu dem unberechenbaren Untergrund, durch den Teile der bis zu 60 Kilometer langen S21-Tunnel gebaut werden müssen. Da wird festgehalten, dass es bei Tunnelarbeiten im Anhydrit-Bereich „keinen Wasserzutritt geben“ dürfe. Doch bei einer „Begehung am 17. August 2016“ habe es eben dies gegeben: Wasserzutritt“.

Schließlich heißt es, man betrachte im KPMG-Gutachten nur Ereignisse, die „bis zum Zeitpunkt der kommerziellen Inbetriebnahme eintreten“ könnten (S.49). Es gebe „grundsätzlich keine bautechnische Lösung, welche eine risikofreie Nutzung [der S21-Tunelbauten] über Jahrzehnte zuverlässig sicherstellen kann.“ (S. 52f).
Nun geht es bei Stuttgart 21 aber angeblich um ein „Jahrhundertbauwerk“ – und dies im doppelten Wortsinn. Zum einen hinsichtlich der Behauptung, das sei ein Kernstück der „Magistrale Paris – Bratislava“. Sodann aber vor allem in dem Sinn, dass Bauwerke wie Tunnel bei den Eisenbahnen eine Bestandsgarantie von 100 und mehr Jahren aufzuweisen haben. Das KPMG-Gutachten sagt jedoch unzweideutig: Eine solche Garantie kann es bei den S21-Tunneln nicht geben.

Alle drei ausgewählten Aspekte im KPMG-Gutachten stellen vernichtende Urteile über Stuttgart 21 dar. Damit aber stellt sich nochmals drängender die Frage: Warum wird das Gutachten geheim gehalten? Warum sind beide Gutachten, das von KPMG und dasjenige des Bundesrechnungshofs, Geheimdokumente? Warum werden diese von der Landesregierung und vom OB dieser Stadt nicht komplett ins Netz gestellt? Das wäre das adäquate Verfahren, zumal dann, wenn die Landesverfassung berücksichtigt wird, wonach es gilt, „Schaden vom Volk“ abzuhalten.

Überhaupt: Die Deutsche Bahn ist Eigentum der Bevölkerung. Sie ist nach Artikel 87 e Grundgesetz verpflichtet, sich am „Allgemeinwohl“ zu orientieren. Der Bundesrechnungshof ist laut Grundgesetz dazu da, Projekte, in die größere Summen an Steuergeldern fließen, hinsichtlich eines sinnvollen und sparsamen Umgangs mit Steuergeld zu kontrollieren. Der Bundesrechnungshofbericht sagt voraus, dass die Kosten sich 10 Milliarden Euro nähern. Und dort steht, dass „Stuttgart 21 am Ende möglicherweise keine Betriebsgenehmigung erhält“. Im KPMG-Gutachten heißt es, die Risiken des Bauens von Tunneln im Anhydrit-Bereich seien schlicht nicht abschätzbar. All das zusammen heißt eindeutig: Der Weiterbau ist unverantwortlich!

Liebe Freundinnen, liebe Freunde,

seien wir realistisch und beurteilen wir alle Möglichkeiten der weiteren Entwicklung. Ich sehe drei denkbare Entwicklungspfade:

Erstens eine Art worst case. Er tritt dann ein, wenn wir schwächeln, wenn die Bewegung gegen Stuttgart 21 abebbt und wenn die demokratische Kontrolle von S21 damit deutlich nachlässt. In diesem Fall wird Stuttgart 21 im Zeitraum 2018-2020 ein stilles, aber chaotisches Ende nehmen. Wir werden eine krasse Bauruine in dieser Stadt haben. Das Projekt wird auch dann eingestellt werden, weil es ingenieurstechnisch schlicht nicht zu bewältigen ist und weil es sich als unfinanzierbar erweisen wird. Allerdings werden bis dann fünf bis acht Milliarden Euro verbuddelt sein.

Der zweite, nicht ganz wahrscheinliche, aber mögliche und natürlich wünschenswerte Entwicklungsgang lautet: Auf der kommenden Aufsichtsratssitzung kippt S21. Oder die Entscheidung wird nochmals bis Frühjahr 2017 hinausgezögert und das Projekt wird dann dort im Aufsichtsrat zum Kippen gebracht. Diesen Entwicklungspfad würde es dann geben, weil wir sind, was wir sind: eine starke Bewegung. Und weil es dann im Aufsichtsrat ein paar Leute gibt mit Arsch in der Hose, mit Grütze und Ratio im Kopf und mit Demokratie im Herzen gibt. In diesem Fall könnte auf das Programm „Umstieg 21“ komplett umgestiegen werden. Es würden gut fünf Milliarden Euro eingespart.

Der dritte Entwicklungspfad ist aus meiner Sicht der wahrscheinlichste. Er geht wie folgt: Unsere Bewegung bleibt stabil. Doch der Aufsichtsrat bleibt monolithisch. Die Aufsichtsräte kuschen; auch die beiden SPD-Damen dort, Frau Zypries und Frau Lühmann, folgen der Staatsräson. Die EVG-Vertreter dort bleiben ihrem Arbeitgeber hündisch treu. Das würde heißen: Das Projekt Stuttgart 21 wird über die Bundestagswahl im September 2017 hinweg geschleppt und verschleppt. Wir treffen uns Ende 2017 zur 400. Montagsdemo.
Doch dann, nach der Bundestagswahl, wird S21 gekippt – weil es eine neue Bundesregierung gibt, weil es einen neuen Bahnchef gibt, weil es neue S21-Krisen gab. Und vor allem, weil die Kostenvorhersage dann eindeutig bei 10 Milliarden Euro plus X liegen wird.

Liebe Freundinnen, liebe Freunde,

ein letztes Mal zurück zum Ausgangspunkt. Vorgestern, bei der eher kleinen Demo in Berlin zur Verabschiedung des letzten Nachtzugs fragte Frau Maischberger, warum es doch mit rund 100 Leuten dort eher wenige seien, die sich engagierten. Ich sagte, es sei halt hierzulande und anders als im Fall TTIP und CETA schwierig, für verkehrspolitische Themen Menschen auf die Straße zu bekommen. Die Talkmasterin sagte, aber im Fall Stuttgart 21 sei es doch anders. Ich antwortete: Ja, da ist es anders. Das ist etwas Besonderes. Zum Beispiel dann, wenn wir uns übermorgen zur 350. Montagsdemo treffen würden.

Dabei wird es bleiben. Das ist etwas Besonderes – diese 350 Demonstrationen gegen das S21-Monster an all den Montagen. Und wir werden alles tun, dass das so bleibt, dass sich der Widerstand gegen Stuttgart 21 hält und neu verbreitert. Dass er sich auch weiter internationalisiert. Gerade wird geplant, dass es Anfang 2017 an einem Montag hier in Stuttgart auf der Demo eine Art „italienischen Abend“ geben wird, dass dann dort Tiziano Cardosi aus Florenz und Frau Susanna Kuby aus Venedig über ihre Kämpfe gegen vergleichbare Monsterprojekte berichten.

Wir werden weiter konsequent, kreativ und konstruktiv diesen Kampf führen. Wir werden es sein, die die Tunnelfetischisten unterkriegen.
Und wir werden am Ende oben bleiben!

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5 Antworten zu Rede von Dr. Winfried Wolf, Verkehrsexperte, Journalist, Herausgeber von ‚Lunapark21‘, auf der 350. Montagsdemo am 12.12.2016

  1. Barbara Weber sagt:

    ..warum ist der Text hinter den Rand-Artikeln versteckt und damit unleserlich ? Barbara W.

    • Thomas Renkenberger sagt:

      …das liegt vielleicht am Lesegerät – hier ist die Darstellung gleich in Ordnung wie bei allen anderen Beiträgen.

    • Udo Cronauge sagt:

      Tipp:
      auf die Überschrift des Artikels klicken.
      Im neuen Browser-Fenster ist dann nichts mehr „versteckt“ / überdeckt.
      Andere Browser zeigen sofort alles korrekt an.

  2. Pingback: LabourNet Germany » [12.12.2016] 350. Montagsdemonstration gegen Stuttgart 21

  3. Stephan Becker sagt:

    Mir ist erst vor ein paar Tagen wirklich klar geworden warum die Bauarbeiten in und um den Tiefbahnhof so schleppend vorankommen:
    Alle beteiligten Bauleiter warten sehnsüchtig auf den großen Durchbruch. Nein, nicht etwa auf den großen Durchbruch bei der Verbreitung von Intelligenz in den höheren Etagen der Bahn AG, nein sie warten auf den großen Durchbruch des Anhydrits!
    Nach wie vor ist der Bauleitung nicht klar in welcher Richtung der Tunnel zum Fildertiefbahnhof verlaufen soll. Den Weg kann erst der quellende Anhydrit zeigen, der dann jede Menge Hohlräume schafft (nach Auflösung und Abfluss des ausgelaugten Anydrits(Gipskeuper)).
    Und jetzt wird auch verständlich warum die Bahnsteige so extrem schräg nach unten verlaufen in Richtung Wagenburgtunnel.
    Auch DAS wird der Anhydrit richten! Nach Abschluss der Bauarbeiten, geschätzt so im Jahr 2035, werden dann die Bahnsteige schön horizontal verlaufen, weil der quellende Anhydrit ringsum alles angehoben hat! Was für eine weise Voraussicht bei der Bauleitung der beteiligten Bauunternehmen!
    /* Ironie aus*/

    Noch ein Hinweis zum Risiko des Quellen des Anhydrits: In Baden-Württemberg bebt immer mal wieder die Erde, zum Teil recht kräftig:

    Beben auf der Alb – Panik, aber keine Verletzte
    Von Klaus Zintz 16. November 2011
    Vor genau einhundert Jahren bebte die Erde auf der Alb. Es war die heftigste Erschütterung Mitteleuropas seit 1755.
    stuttgarter-zeitung.de/inhalt.beben-auf-der-alb-panik-aber-keine-verletzte.be0ac4ec-2cb0-43e4-a076-c30bb367429c.html

    02.09.2008: Vor 30 Jahren bebte es auf der Schwäbischen Alb
    „Seit 1911 das schlimmste Erdbeben in Deutschland“ – „Voller Angst stürzten Tausende ins Freie“ – „Katastrophenalarm im Zollern-Alb-Kreis“ – „25 Verletzte und Millionenschaden“
    Das Erdbeben vom Sonntag, den 03.09.1978 ereignete sich um 6:08 Uhr Ortszeit mit Epizentrum in der heutigen Gemeinde Albstadt im Zollernalbkreis. Die Stärke des Bebens wurde mit 5,7 auf der Richterskala gemessen, die Erschütterungen waren im Umkreis von etwa 300 km spürbar.
    http://www.lgrb-bw.de/aktuell/presse/pressemitteilung_020908

    Luftlinie AlbstadtStuttgart etwa 64 km.

    Erdbeben in Baden-Württemberg
    Viele Menschen sind in der Nacht zum Sonntag 5.12.2004 davon aufgewacht. Häuser haben gezittert, Regale gewackelt, Gläser geklirrt: Die Erde hat gebebt.(…) Nur alle zehn Jahre gibt es Beben der Stärke 5 – wir hatten 5,4 am Wochenende.(…) Am 22. Februar 2003 bebte die Erde in den Vogesen mit einer Stärke von 5,4. In Baden-Württemberg wurden in mehr als 40 Gebäuden Risse an Mauern und Kellern registriert. Am 22. März 2003 beschädigte ein Erdbeben der Stärke 4,4 mit Epizentrum in Albstadt (Zollernalbkreis) Gebäude. Selbst im 70 Kilometer entfernten Stuttgart zitterten Bürogebäude und Wohnhäuser. Am 23. Februar 2004 erschütterte von Ostfrankreich aus ein Beben der Stärke 5,1 die Region zwischen Basel und Freiburg. Am 22. Juni 2004 bebte die Erde bei Basel mit der Stärke 3,8. Erschütterungen sind auch in Südbaden zu spüren. Eine Woche später gab es ein Beben der Stärke 4,2 mit Epizentrum Brugg im Kanton Aargau, das auch in Baden-Württemberg deutlich zu spüren ist.
    http://www.frsw.de/geologie.htm#Erdbeben%20in%20Baden-W%C3%BCrttemberg

    Durch solche Beben können größere oder kleiner Risse in der Erde, auch in tieferen Schichten entstehen und so z.B. Wasseradern den Weg zum quellfähigen Anhydrit ebnen.

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