Von Nadelöhren, Kamelen und anderen Takt-Losigkeiten

Rede von Prof. Dr. Wolfgang Hesse, Mathematiker, Informatiker, Initiative „Deutschland-Takt“; auf der 481. Montagsdemo am 16.9.2019

Liebe Stuttgarter Freunde, liebe Oben-Bleiber, liebe Unverzagte und Unentwegte im Kampf gegen Dummheit, Ignoranz und Profitgier,

11 Monate ist es jetzt her, dass unser Bundesverkehrsminister Scheuer etwas verkündete, was wie eine Sensation klang: „Der Schienenverkehr soll pünktlicher, schneller, die Anschlüs­se sollen direkter und verlässlicher werden.“ Wie das bitte? Nun, mit der neuen Initiative namens „Deutschland-Takt“, mit der „…unser Zukunftsbündnis Schiene volle Fahrt aufnimmt“. Nota bene: 1987 hatten die Schweizer sich in einer Volksabstimmung für das Schweizer Takt­system „Bahn 2000“ ausgesprochen, 31 Jahre brauchte dann unser deutsches „Zukunfts­­bündnis“, um seine Dampfkessel aufzuheizen und schließlich mit Scheuers beherz­tem Anpfiff in die Zukunft aufzubrechen – eine beachtliche Leistung!

Nochmals gingen ein paar Monate ins Land, ehe es einigen Menschen dämmerte: Wir haben da ein Problem: Denn wenn die Züge untereinander Anschluss haben sollen, dann brau­chen sie dafür ausreichend viele Gleise, aber in Stuttgart sind wir ja seit nunmehr fast 10 Jahren dabei, die Gleise systematisch abzubauen, und 2025 sollen es nur noch halb so viele sein wie heute! Wie hieß es doch im Südwest-Rundfunk dazu am 19.6. dieses Jahres: „Der Stuttgarter Bahn­knoten benötigt zusätzliche Gleise am neuen Tiefbahnhof, um den…geplanten Deutschland-Takt in Baden-Württemberg realisieren zu können. …Durchgehend kürzere Umsteige­zeiten seien aus Kapazi­tätsgründen nicht realisierbar.“ Und weiter: „Der Zielfahrplan Baden-Württem­berg (Stand Mai 2019), der dem SWR vorliegt, zeigt, dass der neue Bahnknoten Stuttgart einen integrierten Takt­ver­kehr nach Schweizer Vorbild im Südwesten nicht zulässt.“

Der Verkehrsexperte der Grünen, Matthias Gastel, meint dazu: „Es wäre doch jammerschade, wenn überall in Deutschland die Menschen vom Deutschland-Takt profitieren, nur in Stuttgart funk­tio­niert es nicht. Auch die Baden-Württemberger sollten davon profitieren. Das braucht aber einen anderen Hauptbahnhof als Stuttgart 21.“

Bravo für diese goldrichtige Erkenntnis! Nur ist sie nicht ganz neu: Schon 2007 habe ich auf unserer ersten Pressekonferenz auf die Unvereinbarkeit von „Stuttgart 21“ und einem inte­grierten Taktfahrplan (kurz: ITF) hingewiesen. Bei der Stuttgarter Schlichtung 2010 wurden meine Argumen­te vom „Schlichter“ Geißler abgebügelt – der leider doch nicht so unpartei­isch war wie er sich gab. Trotzdem: in den vergangenen 12 Jahren haben sich die Tatsachen um das abgrund-tiefe Stuttgarter Nadel­öhr einfach nicht wegdiskutieren lassen – und dazu gehört nun mal neben den bekannten anderen k.o.-Kriterien wie unzu­lässige Schräglage, Brandgefahr und -schutz (Menetekel: Montabaur), Anhydrit, Über­schwem­mungsgefahr – seine Unbrauchbar­keit für einen funktionierenden Taktfahrplan.

Doch dann kam der 16.7.2019, als die DB meinte, durch ihren Bevollmächtigten für Baden-Württemberg Thorsten Krenz im Stuttgarter Gemeinderat die Sache erklären zu müssen – wohl nach der Devise „Angriff ist die beste Verteidigung“. Da hören wir nicht nur: „Der neue Knoten ist für den Deutschland-Takt bestens vorbereitet“ sondern – mit zunehmendem Stau­nen: „Stuttgart 21 ist wesentliche Voraussetzung für den geplanten Deutschland-Takt“ und schließlich: „Ohne Stuttgart 21 wäre der geplante Deutschland-Takt schlicht nicht möglich.“ Wow! Bei so viel Chuzpe bleiben einem erst mal die Worte weg. Was lernen wir daraus? Etwa dies: Das Nadelöhr ist wesentliche Voraus­setzung für die Bewegungsfreiheit des Kamels!

Weiter heißt es bei Herrn Krenz: „…der vorliegende Entwurf für den D-Takt sieht für den künftigen Stuttgarter Hauptbahnhof mehr Züge denn je vor: ein Grundangebot von 36,5 Fern- und Regionalzügen pro Stunde – das sind zwei Drittel mehr als heute; insgesamt mehr als 70 stündliche Ankünfte und Abfahrten sind auch mehr, als der heutige Kopfbahnhof – selbst in Spitzenstunden – je geleistet hat.“ Dabei hat unser Mitstreiter Christoph Engelhardt schon 2013 nachgewiesen, dass der Tiefbahnhof bei 32 Zügen pro Stunde seine Grenzen hat – und auch von Beginn an so ausgelegt war, dass der „Stresstest“ mit seinen angeblich 49 Zügen voll von Widersprüchen und Fehlannahmen war und dass der Kopfbahnhof schon 1970 mehr als 45 Züge pro Stunde verkraftet hat.

Wie auch immer man zu den zuweilen etwas spitzfindigen Kapazitäts-Argumenten stehen mag: Beim Deutschland-Takt geht es nicht darum, wie man mit trickreichen Fahrplänen mög­lichst viele Züge durch zu enge Nadelöhre schleusen kann, sondern um ideale Reise­ketten und Umsteigebeziehungen für die Fahrgäste – wozu die Züge etwa gleichzeitig an­kommen bzw. abfahren müssen. Die dafür benötigten Gleise kann man an den Fingern ab­zäh­len: für jede Destination genau eines und das sind bei 6 Fernzug- und 8 Regionalzug-Zielen 14 – plus 2 für Reserve und allfällige Wartungsarbeiten – also genau die Kapazität des bestehenden Kopfbahnhofs!

Wie sich die DB dagegen die Stuttgarter Bahnzukunft vorstellt, lesen wir bei Krenz im näch­sten Abschnitt: Da soll „…der digitale Pilotknoten eine hochlei­stungs­fähige Infra­struktur mit smarter Technik… verbinden: Auf jedem der acht Bahnsteig­gleise kann ohne Weiteres alle fünf Minuten ein Zug fahren, auf jedem der acht daran an­schließenden Streckengleise im Schnitt alle zwei Minuten. Im S-Bahn-ähnlichen Hoch­leistungs­betrieb ergeben sich somit nicht nur Kapazitätsreserven weit über den geplanten Deutschland-Takt hinaus, sondern auch kurze Übergangszeiten für umsteigende Reisende bei gleichzeitig kurzen Haltezeiten für durchfahrende Fahrgäste auf den zahlreichen durchge­bundenen Linien.“

Hier wird nun das Gaukelspiel auf die Spitze getrieben: Will die DB alle ihre Züge zu S-Bahnen umrüsten – mit entsprechend breiten Ein- und Ausstiegsberei­chen (und dann am besten gleich auch ohne Toiletten, das erspart viel Reinigungs­perso­nal)? Der TGV kann ja dann in Kornwestheim halten.

Einen Vorgeschmack auf diesen „Hochleistungs­betrieb“ geben die Zielfahrpläne des Bundes­verkehrsministeriums (BMVI). Ich habe mir mal die Mühe gemacht und die Ankünfte und Ab­fahrten in Stuttgart in einer Stunden-Rosette aufgemalt: Statt – wie man es von einem or­dent­lichen ITF erwarten würde – die Züge zu den Knoten- und Umsteigezeiten (etwa zur Mi­nute 00 und 30) zu bündeln, hat man sie gleichmäßig rund um die Uhr herum gruppiert – so wie sie sich nun mal gerade in den zu engen Bahnhofs-Torso hineinzwängen las­sen. Die Prin­zipien des ITF – und damit des Deutschland-Takts – werden dabei bis zur Un­kenntlichkeit aus­­gehebelt. Aber – so die DB durch Herrn Krenz: „…eine Ergänzung mit einem Kopfbahnhof ist somit auch für den weiteren verkehr­lichen Bedarf nicht notwendig.“

Das ist wohl eine direkte Replik auf den jüngsten Vorstoß von BW-Ver­kehrsminister Winnie Her­mann. Löblich, dass dieser sich auf die Anforderungen des Deutschland-Takts an einen funk­tionierenden Großstadtbahnhof rückbesinnt. Aber wie kommt er auf die – gelinde ge­sagt – abenteuerliche Idee, dafür einen neuen Tief-Kopfbahn­hof zu graben, wo doch die Gleise eines (noch) voll funktionstüchtigen Bahnhofs vor seiner Türe liegen? Ist seine Angst vor den Stuttgarter Heuschrecken und Immobilien-Haien so groß, dass er das Naheliegende nicht mehr zu denken wagt? Hat er niemals davon gehört, dass man – wenn es denn unbe­dingt um die Filet-Grundstücke im Zentrum gehen muss, man Bahnanlagen auch überbau­en kann – wie es gerade wieder an der Pennsylvania Station in New York vorgeführt wurde?

Das heißt also, ein „Kombi-Bahnhof“ – wie er seinerzeit von Herrn Geißler (allerdings als es dazu schon zu spät war) vorgeschlagen wurde – könnte die S21-Probleme zwar nicht alle beheben, aber wenigstens abmildern. Dazu kann man den Tiefbahnhof auf vier Gleise ab­specken, pro gespartem Gleis den Bahnsteig auf ein vernünftiges und den Sicherheitsbedürf­nis­sen ent­sprechen­des Maß verbreitern und mit 10 - 12, am besten allen 16 verbliebenen Gleisen im Kopfbahn­hof auch noch einen brauchbaren Deutschland-Takt fahren. Das ist aber (ich beto­ne dies) wegen der anderen verbliebenen Probleme die drittschlechteste Lösung. Viel besser wäre ein Umstieg auf den sanierten Kopfbahnhof – vielleicht gerade noch mit einer Express-S-Bahn im Keller, wenn man diesen unbedingt nutzen will, um das Gesicht noch einigermaßen zu wahren.

Doch nicht nur Stuttgart ist das Ziel von Bahnhofs-Begehrlichkeiten: In Frankfurt soll das längst begrabene Projekt „Frankfurt 21“ wiederbelebt werden, in Hamburg soll den Bürgern und Fahrgästen ihr vertrauter und wohlsituierter Bahnhof Altona weggestohlen und (nomen est omen!) an den Diebsteich verlegt werden, und in München wird seit einer Woche der Haupt­bahnhof abgerissen – zugunsten eines überdimensionierten, postmoder­nen Glas­pa­lasts, den keiner braucht und der das dortige Mega-Projekt „Zweite S-Bahn-Stamm­strecke“ unumkehrbar machen soll.

Das ist für die Bahn auch dringend notwendig, weil die ursprüngliche Planung auf der ganzen Linie ge­schei­tert ist. Alle drei geplanten Stationen und die Streckenführung östlich der Isar müssen von Grund auf neu geplant werden, und jetzt soll auch noch ein zu­sätzlicher Ret­tungs­stollen gebaut werden. Die Bahn redet von „unwe­sent­lichen Planänderungen“ und „Optimierun­gen“, muss sich aber trotzdem einem neuen Planfeststellungsver­fahren stellen. Das wäre nun der geeignete Moment für ein Moratorium, um in der gewonnenen Zeit end­lich die wirklich wichti­gen Pro­jekte anzugehen und das Tunnelprojekt noch ein­mal gründlich auf den Prüf­stand zu stellen.

Aber da könnte ja – wie in Stuttgart – der fehlende Nutzen bei ständig wachsenden immen­sen Kosten offenbar werden und sich zeigen, wie nackt der Kaiser mit seinen Großprojekten dasteht. Und dabei könnten einige Ursachen für die gegenwärtige Bahn-Misere zu Tage tre­ten, als da sind: jahrzehntelange Benachteiligung der Bürger- und Flächenbahn, Börsen-Liebe­­dienerei, Wettbe­werbs-Geran­gel, Dominanz von Großprojekten, Beton-Lobbyisten und Tunnel­gräbern, autogeile Ver­kehrsminister, verantwortungslose Entscheidungsträger und ihre panische Angst vor Gesichts­­verlusten.

Da sind wir bei des Pudels Kern: Nicht primär um den Schienen­verkehr, der (Zitat Scheuer:) „…pünktlicher, schneller“, und um Anschlüs­se, die „…direkter und verlässlicher“ werdensollen, geht es, sondern um Groß­projekte, Immobilien, Filetgrundstücke und auszu­lastende Tunnelbohrmaschinen! Diesen Verdacht nähren jedenfalls auch die jüng­sten „An­pas­sungen“ der Ziel­fahrpläne vom Frühjahr dieses Jahres, wo der Hochgeschwindig­keits­­wahn mit neuen Mega-Projekten – wie von Bielefeld nach Hannover und Würzburg nach Nürn­berg – auf die Spitze getrieben wird. Dass dann für Taktverdichtungen auf soge­nannten Nebenstrecken, für wiederzubelebende Strecken und Bahnhöfe kein Geld mehr übrig ist – wen wundert es?

Deutschland braucht eine starke Schiene.“ So beginnt Minister Scheuer seine großspurige Deutschland-Takt-Ankündigung. Richtig, aber nicht in den Katakomben von Stuttgart und Mün­chen, in der Ödnis des Hamburger Diebsteichs und in wahnwitzigen Hochgeschwindig­keits-Projekten, sondern vor Ort, wo die Fahrgäste wohnen, entlang der Filderstädte über Stuttgart, am Bodensee, im Allgäu, in den Ballungs­räumen des Südens und Westens, aber auch in den immer noch um Anschluss ringenden Regionen Ost­deutsch­lands.

Und: Deutschland braucht mehr – daran erinnern uns die wackeren jugendlichen Freitags-Futuristen jetzt jede Woche: Angesichts von Umwelt- und Klimakrise braucht Deutschland eine Verkehrswende, aber nicht mit Elektroautos, Digital-Schnickschnack wie „autono­mem Fahren“, Drohnen-Taxis und sinnlosen Großprojekten, sondern mit Subventions-Stopp für Diesel und Dienst­wägen, massiver Besteu­e­rung von LKW-Transporten und Flugverkehr, gepaart mit einem umfassenden Ausbau der Bahn, Strecken- und Bahnhofs-Reaktivierungen, Flächenbahn, Rückkehr von InterRegio-, Nacht- und Autozügen und – endlich ! – mit dem Eintritt in die zivilisierte Welt, wo die gren­zen­lose Raserei auf Autobahnen untersagt und als Straftat verfolgt wird!

Auf dass wir das alles gemeinsam erreichen, schließe ich auch dieses Mal wieder mit Cato dem Älteren: „Ceterum censeo Stuttgart 21 esse terminandum“ und rufe Euch zu:
OBEN BLEIBEN!

Literaturhinweis:
Hesse: Deutschland-Takt und BMVI-Zielfahrpläne: Chancen, Defizite und Lösungsvorschläge.
In: Eisenbahn-Revue International, Heft 7/2019, S. 386-389, Minirex-Verlag, Luzern 2019

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