Dem Virus folgt Erkenntnis

Rede von Volker Lösch, Theaterregisseur, auf der 510. Montagsdemo[1] am 27.4.2020

Liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter,

niemand von uns hat so etwas jemals erlebt.
Wir leben ganz wortwörtlich in außer-gewöhnlichen Zeiten.
Was wird es mit uns machen, dass unser Leben auf nicht absehbare Zeit
durch ein Mindestabstand-Gebot bestimmt sein wird?
Wird es jemals ein Zurück in die Zeit vor Corona geben?

Diese Krise wird irgendwann beendet sein. Aber was ist danach?

Ich glaube, dass die Zeit nach Corona die politischste sein wird, die wir je erlebt haben werden.
Denn es werden fundamentale Entscheidungen anstehen und gefällt werden.
Diese Krise lässt wie unter einem Brennglas politische Beschlüsse,
die in den letzten Jahrzehnten falsch getroffen wurden,
durch ihre fatalen Auswirkungen nun überdeutlich zu Tage treten.
Corona konkretisiert, macht sichtbar und verklart –
führt so zu Erkenntnis und fordert zum Widerstand auf.

Und welcher Ort wäre geeigneter als unsere Montagsdemonstration,
die seit über 10 Jahren zu allen großen politischen Themen Stellung bezieht,
darüber zu debattieren, was verändert werden muss.
Das nur profitorientierte System, welches mehr denn je in Frage steht,
hat hier einen ganz eigenen Namen: „Prinzip Stuttgart 21“.

Es spricht vieles dafür, dass uns harte, konfliktreiche Zeiten bevorstehen.
Man hört ja bereits, dass alles dafür getan werden soll,
unser altes System unverändert wieder hochzufahren.
Wie nach dem Bankenfiasko 2008 scheint man nichts kapiert zu haben.

Doch es gibt auch Grund zur Hoffnung.
Denn der sogenannte Mainstream wird derzeit mit der Nase auf Themen gestoßen,
die für die meisten bisher nur eine untergeordnete Rolle gespielt haben.
An drei Beispielen möchte ich das beschreiben.
An der Gesundheit, der Ungleichheit und der Destruktivität von „Stuttgart 21“.

1

Vor einem Jahr habe ich in Berlin eine Inszenierung zum Thema Gesundheitswesen gemacht.
Wir haben Argumente pro und contra
in Form eines Gerichtsprozesses aufeinander prallen lassen,
dazu haben Krankenpfleger*innen der Charité aus ihrem Arbeitsalltag erzählt.
Der Umgang unserer Gesellschaft mit dem Pflegepersonal,
was Bezahlung, Wertschätzung und Abbau ihrer Arbeitsplätze betrifft,
war damals schon ein Skandal.

Dass nun aber durch jahrelanges Kaputtsparen des Gesundheitssystems
Beatmungsgeräte, Schutzausrüstung, Krankenhäuser und Personal fehlen,
lässt eine breite Öffentlichkeit ganz unmittelbar erfahren,
wie falsch die Privatisierung des Gesundheitssektors war.

Eine Mehrheit kapiert derzeit,
dass die Profitorientierung von Gesundheitsunternehmen
die Patientenversorgung verschlechtert hat.
Dass die Ausbeutung der Mitarbeiter durch diese Profitorientierung dazu führt,
dass immer weniger Menschen diesen Beruf ergreifen wollen.
Dass das anreizorientierte Menschenbild des Neoliberalismus
auch im Gesundheitswesen verkehrt ist,
weil es nur die Profitanreize von Investoren befriedigt.
Dass das System der wettbewerbsgetriebenen,
marktradikalen Steuerung des Gesundheitssystems dringend abzulösen ist
durch ein solidarisches System, welches sich am Gemeinwohl,
an der Versorgungsqualität, der medizinischer Notwendigkeit,
dem Patientenwohl und den Mitarbeiterinteressen orientiert.

Jetzt hat es fast jede und jeder verstanden:
dass die Corona-Epidemie in Europa so präsent ist, ist eine direkte Folge
der durch die neoliberale Politik ruinierten Gesundheitssysteme.
Ich freue mich auf Initiativen und Aktionen
zugunsten der Rückkehr zu einer gemeinwohlorientierten Gesundheitsversorgung –
die nach der Krise breiten Zulauf und große Erfolgsaussichten haben werden.

2

Liebe Freundinnen und Freunde,

unsere Art des Lebens, unsere verinnerlichte Ideologie,
die schon so lange auf Egoismus, Einzelkampf und Entsolidarisierung setzt,
hat der Herausforderung der Pandemie nichts entgegenzusetzen.
Im Gegenteil: sie macht die Krise für all diejenigen noch größer,
die sowieso schon unter dem Neoliberalismus leiden, mehr als alle anderen.
Da sie keine großen Wohnungen und Gärten haben,
oft ohne Balkone an lauten Straßen leben,
in beengten Verhältnissen lebend Männergewalt ausgesetzt sind,
keine Hilfe bei der Kinderbetreuung erfahren,
Tätigkeiten nachgehen müssen ohne Mindestabstand,
ihre schlecht bezahlte Arbeit verloren haben oder kurzarbeiten müssen.

Jede und jeder kennt jemanden, die oder der in Not gerät.
Freund*innen können die Miete nicht mehr zahlen, Bekannte werden arbeitslos,
Nachbarn verzweifeln, weil sie den Alltag nicht mehr meistern können.
Corona wirkt global, aber trifft die Menschen ungleich.

Und so entdecken viele zum ersten Mal ein zweites, großes und existentielles Thema:
die zunehmende Ungleichheit.
Es wird spürbar, dass die Pandemie eine Gesellschaft hinterlassen kann,
die sozial stärker gespalten sein wird als zuvor.

Es wird denkbar, dass die kommende Wirtschaftskrise brutale Verteilungskämpfe auslösen wird.
Es wird vorstellbar, dass – wie bei der „Bankenkrise“ 2008 –
die Leidtragenden der bevorstehenden Sparmaßnahmen wieder die Armen sein werden.

Es kommt an. Es sickert durch. Es breitet sich aus. Dem Virus folgt die Erkenntnis.

Dass die wirtschaftlichen und sozialen Folgen von Corona
vor allem für Geringverdiener, Teilzeitkräfte, Prekäre, Frauen und Alleinerziehende
katastrophale Folgen haben werden, rückt ins kollektive Bewusstsein.
Denn wie heißt das immergleiche neoliberale Rezept nach Krisen:
„Kosten sozialisieren, Profite privatisieren“.

Man nimmt verwundert wahr, dass ungleich mehr Menschen als vor der Krise meinen,
die öffentliche Vorsorge muss besser, gerechter, gleicher und sozialer werden.
Unerwartet werden bisher tabuisierte Themen breit debattiert:
dass unsere Gesellschaft eine Umverteilung des Reichtums braucht.
Dass wir über den Umbau unseres Wirtschaftssystems nachdenken,
die scheinbar naturgesetzliche Logik des Profits in Frage stellen müssen.

Wenn diese Dynamik der Kritik zu Politik wird, sehen wir spannenden Zeiten entgegen!

3

Liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter,

die Corona-Pandemie zeigt Undeutliches deutlicher, macht Unsichtbares sichtbarer, Unklares klarer.
Und so outet sich auch „Stuttgart 21“ als das, was es im Kern ausmacht:
Es ist nicht nur ein verfassungswidriger Rückbau,
nicht nur ein obszönes Immobilien- und Bauprojekt,
nicht nur ein sicherheitstechnisches Desaster,
nicht nur ein ästhetisches Elend,
nicht nur eine bahntechnische Katastrophe,
nicht nur ein finanzieller Super-Gau,
nicht nur ein ökologisches Unglück,
nicht nur ein Paradebeispiel für politischen Opportunismus
einer einstmals als Umweltpartei geltenden Politgruppierung.
Nein, „Stuttgart 21“ ist eine Profitmaschine, die über Leichen geht.

Wer das noch nicht wusste, weiß es spätestens nach den neuesten Enthüllungen auf der Baustelle.
Dass man nicht versicherte Arbeiter aus der Türkei mit falschen Versprechungen nach Stuttgart karrt, sie mit 7 Euro pro Stunde ausbeutet, trotz Corona in engsten Verhältnissen unterbringt
und dann auch noch vom Ordnungsamt schwafelt, welches schon alles unter Kontrolle habe,
zeigt nur noch eines – und somit alles:

„Stuttgart 21“ ist ein menschenfeindliches Projekt.
Es ist zutiefst inhuman, unsozial und menschenverachtend.
Menschen sind bei „S21“ regelrecht nichts wert.
Nicht die Steuerzahler*innen, die für weniger als Nichts Milliarden blechen müssen,
nicht die Demonstrant*innen, die erst im Park auf die Fresse bekommen,
und dann seit über 10 Jahren – trotz Tausenden von schlüssigen Gegenargumenten – ignoriert werden,
nicht die Millionen von potentiellen Bahnreisenden,
die lebensgefährlichen Sicherheitsgefahren preisgegeben werden sollen,
nicht die Arbeiter, die für diesen sinnlosen Unglücksbau, den niemand braucht,
sogar dem Risiko, sterben zu müssen, vorsätzlich ausgesetzt werden.
„Stuttgart 21“ ist weniger wert als der Dreck,
der jeden Tag auf seiner Baustelle aufgewirbelt wird.

Und das ist nun auch dem letzten Zweifler klar geworden, der bisher noch anderer Meinung war.
So tragisch es ist: Corona führt auch hier zu Gewissheit.

4

Liebe Freundinnen und Freunde,

in der großen Corona-Pause haben wir die unerwartete Möglichkeit bekommen,
unsere wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Systeme zu reformieren und umzubauen.
Aber Vorsicht – um diesen kleinen Bewusstseins-Vorsprung, den wir nun errungen haben,
müssen wir kämpfen.
Wir müssen noch klarer, noch entschiedener und noch positionierter für das Andere streiten.
Es stehen eher ungemütliche Zeiten bevor. Nach der Krise ist vor der Krise.

Kämpfen wir gegen das blinde „Weiter so wie bisher“.
Für die Reduktion des wirtschaftlichen Lebens.
Gegen das zerstörerische „Wachstum über alles“.
Für eine nachhaltige Wirtschaftsweise.
Gegen Milliardenhilfen für Konzerne und Hilfen für die Finanzbranche.
Für öffentliche Kontrolle und Umwandlung von Rüstungsindustrie, Autoindustrie und Flugzeugbau.
Gegen Abwrackprämien.
Für solidarische Hilfsprogramme in ganz Europa.
Gegen Austeritätspolitik.
Für die hohe Besteuerung von großen Vermögen, großen Gewinnen und großen Einkommen.
Gegen Niedriglöhne, Privatisierungen, Vermögensanhäufung.
Für ein öffentliches Gesundheitssystem und eine einheitliche Krankenversicherung.
Gegen private Krankenhäuser, Fallpauschalen und das Geldverdienen mit Gesundheit.
Für solidarische Verhaltens- und Lebensweisen.
Gegen weitere Klimaerwärmung.
Für radikale Arbeitszeitverkürzungen bei vollem Lohnausgleich.
Gegen Sozialabbau und Einkommenseinbußen.
Für eine angemessene Bezahlung von Menschen in Sozialberufen.
Gegen die menschenfeindliche Arbeitssituation auf der Stuttgarter Baustelle.
Für einen sofortigen Baustopp und für „Umstieg21“.
Gegen „Stuttgart 21“.
Für die Vernunft.

Liebe Freundinnen und Freunde,

Ich grüße euch herzlich aus Berlin und freue mich darauf,
mit euch allen irgendwann wieder live vor dem Stuttgarter Kopfbahnhof protestieren zu können.
Wenn wir diese Krise gut hinter uns bringen,
dann sollte „Stuttgart 21“ erst recht zu bezwingen sein.

Gesund bleiben, rebellisch bleiben und – OBEN BLEIBEN!

[1] ab 16.3.2020 wegen Corona-Pandemie jeweils Montags, 18 Uhr, online: https://www.parkschuetzer.de/videos/

Rede von Volker Lösch als pdf-Datei

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein abgelegt und mit , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Eine Antwort zu Dem Virus folgt Erkenntnis

  1. Alexander Abel sagt:

    Und welche Konsequenzen ziehen Sie, Herr Lösch,
    aus diesen richtigen Erkenntnissen?
    Sie wollen gegen das „weiter wie bisher kämpfen“ – aber wie??
    Ich weiss, keiner will das hören, aber gerade deswegen spreche ich es hier wieder einmal aus:
    Alle die „Reformen“, die Sie sich vorstellen,
    alle Reformen gegen Neoliberalismus und Profitorientierung setzen ein ganz anderes
    politisches System voraus, noch deutlicher
    ausgedrückt eine Revolution!
    Eine solche kann man nicht ohne + nicht gegen das Volk durchführen, aber das hat für S21
    gestimmt und die Grünen Umweltheuchler + Verräter an die Macht gewählt.
    Mit diesem Volk können Sie keine Reformen
    verwirklichen + schon garkeine Revolution durchführen!
    aabel-s@gmx.de

    gewählt

Kommentare sind geschlossen.