Stuttgart 21 und ein sich zuspitzender Konflikt zwischen Legislative und Exekutive. Oder: Der Bundesrechnungshof macht Druck

Rede von Dr. Winfried Wolf, Verkehrsexperte, Journalist und Herausgeber von ‚LunaPark21′, auf der 533. Montagsdemo am 12.10.2020

Letzter Freitag, 9. Oktober 2020, 12 Uhr. Tatort: Arndtstraße 29; Wahlkampfbüro von Hannes Rockenbauch. Versammelt waren dort: Hannes Rockenbauch, Prof. Dr. Heiner Monheim, Prof. Dr. Wolfgang Hesse, ich und die Aktivistin Lucia von Fridays for Future. Prof. Hermann Knoflacher war mit einem Kurzstatement vertreten; aus Corona-Gründen konnte er aus Wien nicht anreisen.

Nach einer kurzen Einleitung durch Hannes stellten Heiner Monheim, Wolfgang Hesse und ich eine Bilanz der aktuellen Verkehrs-Situation in Stuttgart vor. Auf dieser Basis entwickelten wir einen detaillierten Plan zum Umbau dieser – wenig nachhaltigen – Verkehrsorganisation hin zu einem „Stuttgart-Verkehr 2030“, der den Forderungen hinsichtlich Umweltschutz, Schutz der menschlichen Gesundheit und Klimaschutz gerecht wird. Der also den Ansprüchen für eine Stadt für die Menschen entspricht.

Das Wahlkampfteam von Hannes hatte natürlich die Medien umfänglich informiert und zu dem Termin eingeladen. Es gab allerdings... nur Absagen. Absage seitens der Stuttgarter Zeitung. Absage seitens der Stuttgarter Nachrichten. Absage seitens des SWR. Und noch ein paar andere. Und Absage heißt: Es werde niemand zu dem Termin erscheinen. Die Begründung lautete jeweils: Man müsse im OB-Wahlkampf neutral bleiben. Jeder Kandidat würde in der jeweiligen Zeitung vorgestellt; einschließlich eines individuellen Porträts. Bei Einzelpositionen und der Präsentation spezifischer Sachthemen durch einzelne OB-Kandidaten könne man jedoch nicht berichten. Stichwort eben: die gebotene Neutralität. Oder auch: Personality ja, Sachthemen nein.

Ich finde dieses Verhalten einigermaßen skandalös. Das hat wenig mit Neutralität zu tun. Natürlich wäre es die Verpflichtung der Medien, über die Vorstellung eines Verkehrs-Konzeptes für Stuttgart zu berichten – zumal dann, wenn das von ausgesprochen prominenter wie kompetenter Seite präsentiert wird. Und die Stuttgarter Zeitungen halten sich natürlich auch gar nicht an diese behauptete Neutralität.[1] Da könnte Hannes doch glatt sagen, Verkehr ist für mich als Ökologisch-Sozialer besonders wichtig, weil eine nachhaltige Verkehrsstadt Stuttgart uns befähigt, das Überleben der nächsten Generationen zu sichern.

Wobei wir jetzt nicht völlig überrascht waren. Wir kennen diese Art von parteiischer „Neutralität“. Unsere Präsentation am letzten Freitag wurde gestreamt. Man kann sie sich inzwischen auf der Website von Hannes ansehen. UND: Ich konnte in den letzten 36 Stunden klären, dass unser Konzept als ein schmales 100-Seiten-Buch in gut einer Woche vorliegen wird. Gedruckt. Schwarz auf weiß. Was sag ich: Sogar Rot-Blau-Gelb-Schwarz auf Weiß; im Vierfarbdruck. Peter Grohmann macht´s möglich. Danke Peter!

Jetzt könnte man sagen: Da geht es um den Wahlkampf – da haben diese Medien halt dieses sehr spezielle Agreement. Doch ansonsten wird schon seriös berichtet. Doch auch hier ist sind dicke Fragezeichen angebracht. Nehmen wir dieses Jahr 2020. Da gab es doch in Sachen Stuttgart 21 bislang bereits das volle Programm. Wir hatten hier beim Thema S21 mindestens vier Ereignisse, die eigentlich auf Seite 1 der Zeitungen und als Hauptaufmacher der sonstigen Medien hätten in Großaufmachung berichtet werden müssen. Und zwar nicht nur im Raum Stuttgart, sondern bundesweit.

Da waren erstens im Frühjahr die Erkenntnisse, wonach ein S21-Tiefbahnhof, der dem Deutschlandtakt gerecht wird, mindestens 20, manche sagen 40 bis 50 zusätzliche Tunnel-Kilometer benötigen würde. Also zusätzlich zu den bestehenden und zu den teilweise bereits gebohrten 50 Tunnel-Kilometern. Wobei Winfried Hermann und der S21-Erfinder Prof. Heimerl dann noch die Idee von einem ergänzenden unterirdischen Kopfbahnhöfle haben.

Legt man hier nur grob die Maßstäbe an, die wir hinsichtlich Kosten und Termine aus dem bisherigen S21-Ablauf kennen, dann heißt das: die Kosten liegen damit um gut drei, eher um fünf Milliarden Euro höher. Und das Ganze dauert gut drei, eher fünf Jahre länger. Wir sind dann bei rund 15 Milliarden Euro Baukosten und im Jahr 2030 mit der Fertigstellung.

Da war zweitens die Recherche von Harald Kirchner vom SWR, wonach die Flächen für eine Wohnbebauung auf dem bestehenden Gleisvorfeld erst im Jahr 2035 frei werden. Ein bebautes Rosensteinareal wird immer mehr zur Fata Morgana, die immer wieder aufs Neue gen Horizont rückt. Dabei war doch der Verweis, man mute der Stadt und der Bevölkerung diese gigantische Durchwühlung des Stuttgarter Untergrunds zu, um „bezahlbaren Wohnraum für viele“ zu schaffen, das einzige, was Fritz Kuhn sich als Erfolg an den grünen Hut heften wollte.

Drittens hatten wir am vergangenen Freitag die Meldung zu den Doppelbelegungen auf den S21-Gleisen. Die Bundesregierung höchstselbst musste bei dem Thema Farbe bekennen – in Form einer Antwort auf eine entsprechende Frage der Grünen. Die Substanz der Antwort lautet: In einem S21-Bahnhof wird es im Fall eines Deutschlandtakts und bei der eingeplanten Zunahme der Fahrgäste 180 Doppelbelegungen auf den Gleisen geben. Nochmals, um sich das zu verdeutlichen: Es stehen also an einem durchschnittlichen Werktag 180 Mal zwei Züge zum gleichen Zeitpunkt auf einem der acht S21-Gleise.

Da gibt es dann oft den Verweis auf die Hauptbahnhöfe Köln und Hamburg, wo es „so was“ ja auch geben würde. Verschwiegen wird dabei, dass das ja gerade das Problem bei diesen Bahnhöfen ist. Dass das von allen Fahrgästen und auch von der Deutschen Bahn selbst dort als Manko empfunden wird. Dass es deshalb auf diesen Bahnhöfen oft Chaos und ein Umher-Rennen der Fahrgäste gibt. Und dass im Rahmen der Deutschland-Takt-Planungen geprüft wird, wie man in Köln und in Hamburg solche Doppelbelegungen vermeiden kann. Vor allem wird dabei verschwiegen, dass in diesen beiden Bahnhöfen diese Züge mit Doppelbelegungen in jeweils entgegengesetzter Richtung aus dem Bahnhof herausfahren: Also im Hauptbahnhof Hamburg – da rollen die einen Züge in Richtung Bremen und die anderen in Richtung Hannover. Und in Köln fahren die einen Züge auf dem doppelbelegten Gleis über den Rhein in Richtung Deutz und Düsseldorf und die anderen Richtung Bonn und Aachen. Doch im S21-Tiefbahnhof dürfen grundsätzlich die Züge nur in ein und derselben Richtung den Bahnhof verlassen. Sie müssen also hintereinander her zuckeln. Hier heißt Doppelbelegung verdoppelter Stress. Gekoppelte Verspätungen. Wenn der vordere noch eine Tür hat, die klemmt, oder einen Rollstuhlfahrer, für den es mehr an Einstiegszeit benötigt, dann wird der hinter diesem liegende Zug genauso verzögert starten. Da ist eine Doppelbelegung noch deutlich kontraproduktiver als sie generell bereits ist.

Von diesen bislang drei neuen Fakten zu S21 ist jedes allein bereits ein Killer-Fakt. Mit jedem von den dreien müsste das größte Infrastrukturprojekt Deutschlands „eigentlich“ ad acta gelegt werden. Doch es findet sich dazu nichts in den überregionalen Medien. Das war keine Meldung in der „Tagesschau“. Das war kein Thema bei Maischberger oder Anne Will. Es gab dazu nicht einmal ein Dementi des Straßenmaut-Schwindler Andreas Scheuer.

Und wird das wenigstens mit gebührender Aufmachung in der Stuttgarter Zeitung präsentiert? Das ist nicht der Fall. Das war kein Thema im Hauptteil. Das tauchte erst auf den Seiten „Stuttgart, Stadt, Region & Land“ auf. Dort steht die Meldung dann als Vierspalter im „Keller“. Die Überschrift und die Unterzeile dazu lauten – mit latent positivem Ton: „Zwei Züge auf einem Gleis im Hauptbahnhof geplant. Bis 2030 sollen in Deutschland doppelt so viele Menschen wie heute Bahn fahren. Was heißt das für Stuttgart? Von Konstantin Schwarz“.

Das Wort „Stuttgart 21“ wird dabei in den ersten drei Spalten gezielt vermieden. Stattdessen ist da immer die Rede vom „neuen Stuttgarter Hauptbahnhof“. Ein Verweis auf die acht Gleise von S21 taucht gar nicht auf. Schon gar nicht gibt es die Aussage, dass es im bestehenden Bahnhof 16 Gleise gibt. Und dann schreibt der Redakteur Konstantin Schwarz den folgenden hochinteressanten Satz: „Aufgrund der Vielzahl an verkehrenden Linien sei Stuttgart ‚ein Knoten, in dem Richtungsanschlüsse fortlaufend hergestellt werden‘, so die [Bundes-]Regierung.“

Das ist George Orwell. Da steht nicht: Der Deutschlandtakt funktioniert mit S21 nicht. Da steht nicht: Die Zahl der Gleise wird mit Stuttgart 21 halbiert. Da steht nicht: Im bestehenden Kopfbahnhof würde der Deutschlandtakt optimal funktionieren. Es heißt nicht: Dieser Integrale Taktfahrplan funktioniert nicht im S21-Bahnhof. Nein! Schuld daran, dass das alles „im neuen Hauptbahnhof“ nicht klappt, sind die Heilbronner, weil sie „da oben“ in Heilbronn hocken. Sind die Ulmer, weil die sich dort unten hinter den Schwäbischen Albbergen am Donau-Ufer ducken. Sind die Tübinger und die Horber, weil diese dummerweise neckaraufwärts sesshaft wurden. Sind die Leute aus Schwäbisch Gmünd, Aalen und Crailsheim, weil die in Schwäbisch-Sibirien ihre Spätzle essen müssen. Es gibt halt in Stuttgart so eine ärgerliche „Vielzahl an verkehrenden Linien.“

Und dann gibt es das Killer-Ereignis Nr. 4. Dabei handelt es sich um den jüngsten Prüfbericht des Bundesrechnungshofs, den Thomas Wüpper ans Tageslicht zerrte. Sagte ich „jüngster Bericht“? Naja, der Prüfbericht datiert auf den 13. September 2019. Er wurde also ein Jahr lang unter Verschluss gehalten. Er wurde dann – nachdem er u.a. im Berliner „Tagesspiegel“ am 18. September 2020 in einem Wüpper-Artikel in großen Teilen publik gemacht wurde – vom Bundesrechnungshof ins Netz gestellt wurde. Zunächst mit zwei geschwärzten Stellen. Darauf komme ich noch zu sprechen.[2]

Der Inhalt dieses neuen, 17 Seiten umfassenden Prüfberichts hat es in sich. Da steht, dass „die Bahn den Gesamtwertumfang [gemeint sind die gesamten S21-Kosten; W.W.] schrittweise auf mehr als das 2,5-fache erhöhte“. Und dann: „Ein weiterer Anstieg [der Kosten; W.W.] zeichnet sich nach Einschätzung des Bundesrechnungshofs bereits ab.“ (S.15). Ergänzend zum Aspekt Kostenanstieg heißt es dort: Die S21-Kosten lägen ohnehin massiv höher als offiziell immer angegeben, da der Bund einen „Einnahmeverzicht […] von über 700 Millionen Euro“ beim S21-Grundstücksverkauf praktizieren würde (S. 7). Der BRH argumentiert hier, die Erlöse aus dem Vorab-Verkauf des S21-Geländes hätte nicht die DB einstecken und zur Finanzierung von S21 verwenden dürfen. Das sei Geld, das dem Bund zugestanden hätte. Diese Stelle war auch in der vom BRH publizierten Fassung geschwärzt. Sie konnte entschwärzt werden.

In dem Bericht ist des Weiteren zu lesen, dass Stuttgart 21 hinsichtlich dieser finanziellen Schräglage längst eine überregionale Bedeutung hat. Dazu heißt es: „Der Bundesrechnungshof sieht in dem Projekt von Stuttgart 21 bedeutende finanzielle Risiken für den Bundeshaushalt“ (S.14) – und sogar „gravierende Folgen für das Bestandsnetz“ der Bahn (S.16).[3] Die Mehrkosten seien „für die DB AG wirtschaftlich nicht tragbar“; sie würden sich „unmittelbar auf die Verschuldung der DB auswirken“, also die extrem hohe Verschuldung des Bahn-Konzerns weiter erhöhen (S.15).

An mehreren Stellen macht der Bundesrechnungshof deutlich, dass das zerstörerische Großprojekt zu einem Konflikt mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu werden drohe. Und zwar ein Konflikt zwischen der Legislative und der Exekutive. Letztere, die Exekutive meint das Bundesverkehrsministerium. Und damit den Herrn Andreas Scheuer. Mit der ersteren, der Legislative, ist der Rechnungsprüfungsausschuss des Bundestags gemeint.[4]

Ab und an heißt es ja, dass unsere seit mehr als zehn Jahren stattfindenden Montagsdemos so eine Art Volkshochschule unter freiem Himmel wären. Das nehmen wir mal wieder beim Wort. Und pauken jetzt kurz ein kleines Kapitel Staatsbürgerkunde. Ich gestehe, ich musste mir das selbst nochmals ins Gedächtnis rufen. Also: Der „Rechnungsprüfungsausschuss“ ist ein ständiger Ausschuss des Bundestags und zugleich Teil des mächtigen Haushaltsausschusses des Parlaments. Alle seine 19 Mitglieder sind zugleich Mitglieder im Haushaltsausschuss. Die Aufgabe des Rechnungsprüfungsausschusses besteht darin, den „Vollzug von (beschlossenen) Ausgaben des Bundes nachzuvollziehen“ – unter anderem auf Basis von Berichten des Bundesrechnungshofs, einer im Grundgesetz fest verankerten und unabhängigen Institution. Es geht also der Legislative, dem Gesetzgeber, darum, der Exekutive bei der Ausgabe der vom Bundestag beschlossenen Gelder auf die Finger zu schauen. Und dabei sollen ihm die Finanzprofis des Bundesrechnungshofs mit ihren Prüfberichten Hilfestellung geben.

Jetzt zieht sich durch den 17-Seiten-Prüfbericht wie ein roter Faden hindurch, dass der Bundesrechnungshof dokumentiert, dass bei Stuttgart 21 Milliarden Euro Steuergelder im Spiel sind, dass die ständigen Verteuerungen und Verschiebungen der Fertigstellung zusätzliche Milliarden Euro kostet – und dass es Sache der Exekutive, des Bundesverkehrsministerium sei, den Verbleib dieser Gelder zu dokumentieren. Das Ministerium des Herrn Scheuer antwortet dann dem Bundesrechnungshof immer wieder – und das ist Schritt für Schritt in dem Prüfbericht dokumentiert – dass es nicht gewillt ist, eine solche Prüfung durchzuführen, dass S21 ein „eigenwirtschaftliches Projekt der Deutschen Bahn“ sei, und dass es ausreiche, wenn der Aufsichtsrat der DB AG eine solche Prüfung vornehme. Worauf der Bundesrechnungshof wiederum erklärt, dass es Steuergelder des Bundes sind, um die es hier geht, und dass Scheuer & Co. direkte Verantwortung dafür tragen, den Verbleib oder eben das Versickern dieser Gelder sorgfältig zu überprüfen.

Das mündet in die folgende zentrale Aussage im Prüfbericht: „Der Bundesrechnungshof hält es für erforderlich, Risiken, Termine, Kosten und Gesamtfinanzierung des Projekts Stuttgart 21 neu zu bewerten. Er hat das BMVI [Bundesministerium für Verkehr und Infrastruktur; W.W.] aufgefordert, dringend mit dem Bundesministerium für Finanzen (BMF) und dem Bundesministerium für Wirtschaft und Energie eine Strategie zum weiteren Vorgehen bei dem Projekt zu erarbeiten, um Risiken für den Konzern, den Bundeshaushalt und die Eisenbahninfrastruktur des Bundes möglichst gering zu halten. Er [der Bundesrechnungshof; W.W.] hat außerdem empfohlen, die Notwendigkeit der noch ausstehenden Projektteile Stuttgart 21 zu bewerten und gegebenenfalls in Betracht zu ziehen, den Umfang des Projekt zu verringern und geplante Projektteile kostengünstiger umzusetzen.“[5]

Das ist schon sensationell. Eine in der Verfassung verankerte Instanz legt offen, dass es einen harten Konflikt in Sachen S21 zwischen Bundestag – der Legislative – und der Exekutive, die ja von der Legislative kontrolliert werden soll, gibt. Sie fordert dazu auf, Stuttgart 21 „neu zu bewerten“, also auf den Prüfstand zu stellen. Und gegebenenfalls Teile des Projekts nicht – nicht mehr – umzusetzen.

Doch was macht darauf das Bundesverkehrsministerium, dem der Rechnungsprüfungsausschuss dabei allerdings auch eine lange Leine lässt? Scheuer mauert, spielt auf Zeit. Gleichzeitig machen die Deutsche Bahn und die S21-Befürworter in Stuttgart selbst das Gegenteil des geforderten Abspeckens: Sie wollen immer mehr Tunnelbauten. Noch einen Bahnhof. Noch ein Dutzend Sicker-Milliarden.

Bezeichnend ist das mit der erwähnten Schwärzung durch den Rechnungshof und die folgende Ent-Schwärzung durch pfiffige Software-Spezialisten. Die zweite geschwärzte Stelle betraf die folgende Feststellung des Bundesrechnungshofs: Die vielfachen Ausflüchte und Einwände des Bundesverkehrsministerium seien – so der Rechnungshof und so die folgende, eigentlich geschwärzte Passage – „ein Zeichen dafür, dass selbst dass BMVI das Projekt Stuttgart 21 nicht mehr für verkehrsbedeutsam hält.“ (S.11). Das heißt im Klartext, was wir schon lange sagen: Es geht längst nicht mehr um ein Verkehrsprojekt. Stuttgart 21 ist für die Bahn, die Verantwortlichen in Stuttgart, in der Landesregierung und in der Bundesregierung „nicht verkehrsbedeutsam“. Es geht um die Staatsräson. Man will das Gesicht wahren. Der nun zehnjährige Widerstand gegen Stuttgart 21 darf nicht Recht bekommen.

Dieser Widerstand, der da am 30. September 2010 mit Polizeigewalt zusammengeknüppelt wurde, der sich da vor zehn Jahren in der sogenannten Schlichtung einer gewaltigen medialen Manipulation ausgesetzt sah, was dann – zusammen mit dem ebenso manipulativen Stresstest vom 29. Juli 2011 – zu dem Erfolg der S21-Betreiber bei der Volksabstimmung am 27. November 2011 beitrug – dieser Widerstand, der seit zehn Jahren Jahr für Jahr sachlich aufs Neue Recht bekam, dieser Widerstand darf politisch nicht recht bekommen. Und um dieses fortgesetzte, politische und mediale Niederknüppeln des Widerstands zu ermöglichen, werden nach aktueller Planung zehn Milliarden Euro Steuergelder zum Fenster hinausgeworfen bzw. in Stuttgarts Untergrund verbuddelt.

Es bleibt dabei: Dieser Widerstand wird fortgesetzt werden. Dieser grandiosen Entgleisung eines Staatsräson-Projekts wird noch in diesem Monat ein Denkmal gesetzt werden. Wofür im Übrigen allein in den letzten zwei Wochen mehr als 25.000 Euro zusätzlich an Spenden gesammelt wurden. Und diese Skulptur wird zugleich eine Würdigung unseres, Eures, Durchhaltevermögens hier auf dem Platz und ein paar hundert Meter weiter im Mahnwachen-Zelt sein.

Und: Wir werden OBEN BLEIBEN!

Anmerkungen:

[1] Dass diese Art „Neutralität“ nicht existiert, zeigt der Stuttgarter Zeitungs-Bericht vom 30. September 2020 über Michael Ballweg. Es geht dort darum, dass Firmen, die bislang mit der IT-Firma Ballweg zusammenarbeiten, angesichts seiner Positionen in Sachen Corona auf Distanz gehen. Da erscheint Ballweg als aufrechter kleiner IT-Unternehmer, der es mit „den Großen“ aufnimmt. Natürlich kann dieser Beitrag nicht unabhängig von Ballwegs OB-Kandidatur gelesen werden.

[2] Vergleichbares gab es übrigens bereits mit zwei vorausgegangenen BRH-Berichten aus den Jahren 2008 und 2016, in denen – jeweils zutreffend – Mehrkosten von Stuttgart S21 belegt wurden, was aber lange Zeit nicht publik wurde.

[3] Hervorhebungen jeweils von mir.

[4] Der Rechnungsprüfungsausschuss hat die organisatorischen Strukturen eines ständigen Ausschusses erreicht. Ihm gehören Abgeordnete an, die zugleich auch Mitglieder beziehungsweise stellvertretende Mitglieder des Haushaltsausschusses sind. Ist der Haushaltsausschuss vor allem für die Bewilligung der Mittel zuständig, so vollzieht der Rechnungsprüfungsausschuss den Vollzug der Ausgaben nach, prüft die Haushalts- und Wirtschaftsführung des Bundes und bereitet die Entlastung der Bundesregierung durch das Plenum des Deutschen Bundestages auf der Grundlage der Bemerkungen des Bundesrechnungshofes vor. https://www.bundestag.de/ausschuesse/a08/a08_rpa

[5] Bericht wie angegeben, Seite 16. Hervorhebungen durch W.W.

Dr. Winfried Wolf ist Chefredakteur von Lunapark21 – Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie. Jüngste Publikationen: Abgefahren – Warum wir eine neue Bahnpolitik brauchen (zusammen mit Bernhard Knierim; Herbst 2019) // Verkehrswende – ein Manifest (zusammen mit Carl Waßmuth; Februar 2020) // Corona, Kapital, Krise – Plädoyer für eine solidarische Alternative in den Zeiten der Pandemie (zusammen mit Christian Zeller und Verena Kreilinger, September 2020). Und eben, ab Ende Oktober: Stuttgart Verkehr 2030 – eine Stadt für die Menschen (zusammen mit Heiner Monheim und Wolfgang Hesse).

Websites: www.winfriedwolf.de und www.lunapark21.net

Rede von Winfried Wolf als pdf-Datei

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