Züblins Hausfrieden und Stuttgarts Stadtklima

Rede von Dieter Reicherter, Vorsitzender Richter am Landgericht a.D., auf der 627. Montagsdemo am 5.9.2022

Liebe Freundinnen und Freunde,

als ich um eine Rede zur Verhandlung wegen der Kranbesteigung gebeten wurde, wollte ich Euch etwas über Zivilen Ungehorsam erklären. Diejenigen, die aus ernsthaften Motiven gegen das Gesetz verstoßen, sind bereit, die Konsequenzen für ihr Tun bis hin zu einer Bestrafung hinzunehmen. Dabei denken wir aktuell vor allem an die Aktionen der Last Generation, über die hier auch schon gesprochen wurde.

Nun ist es aber ganz anders gekommen. Ich bin bei der Vorbereitung gleich auf mehrere Themen gestoßen, die eigene Reden wert wären. Das verdanke ich der jungen Frau und den beiden jungen Männern, die am Mittwoch vor Gericht stehen werden. Die neuen und für unseren Widerstand sehr wichtigen Erkenntnisse sind Folgen ihrer Aktion. Das wiegt in meinen Augen allein schon ihre angebliche Missetat auf. Deshalb danke ich ihnen ausdrücklich für ihren Beitrag zur Weiterbildung.

Angesichts der Fülle an Erkenntnissen möchte ich mich auf den Vorwurf des Hausfriedensbruchs bei der Kranbesteigung beschränken. Der Vorfall mit Bundeskanzler Olaf Scholz auf dem Deutschen Katholikentag wäre auch eine Rede wert. Allen Ernstes hat er über Klimaaktivisten folgendes gesagt: „Ich sage mal ganz ehrlich: Diese schwarzgekleideten Inszenierungen bei verschiedenen Veranstaltungen von immer den gleichen Leuten erinnern mich an eine Zeit, die lange zurückliegt – und Gott sei Dank“.

Aber wie soll ich Stellung nehmen zu dieser angeblichen Erinnerung eines Mannes, der vor dem Hamburger Untersuchungsausschuss gravierende Gedächtnismängel zugegeben hat. Wer sich an hochbrisante politische Gespräche vor wenigen Jahren, in denen es um viele Millionen für Hamburg ging, nicht erinnern kann, der kann sich auch nicht erinnern, was er in der Schule über Nazis gelernt hat. Schlimm finde ich nur, dass ein Mensch mit einem derart schlechten Gedächtnis unser Land in tiefgreifenden Krisenzeiten regieren darf.

Nun aber zurück zum Vorwurf des Hausfriedensbruchs. Im Kommentar zu Paragraf 123 des Strafgesetzbuches heißt es: „Der Inhaber des Hausrechts muss zum Tatzeitpunkt ein stärkeres Recht als der Störer haben.“ Das Recht der Firma Züblin, dass niemand ihre Baustelle betritt, muss also stärker sein als das Recht junger Menschen, auf die von dort ausgehenden Klimaschäden hinzuweisen.

Interessant ist auch Paragraf 376 der Strafprozessordnung, wonach die öffentliche Klage von der Staatsanwaltschaft nur dann erhoben wird, wenn dies im öffentlichen Interesse liegt. Das ist also nach Meinung der Staatsanwaltschaft Stuttgart hier der Fall.

Unser lieber Freund Eisenhart von Loeper hat beim Landgericht Stuttgart am 22.6.2015 einen glorreichen Freispruch für den Friedensaktivisten Wolfgang Sternstein erkämpft. Der hatte sich an der Blockade einer S21-Baustelle beteiligt. Ich zitiere dazu aus dem Urteil: „Die Zusammenkünfte hatten den Zweck, durch die Aktionen gemeinsam öffentliche Aufmerksamkeit für seine und die von anderen Stuttgart-21-Gegnern vertretenen Standpunkte gegen das aus seiner und deren Sicht rechtswidrige Bauprojekt Stuttgart 21 zu erregen und Stellung zu beziehen. Hierbei handelte es sich um einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung. Die Aktionen, an denen der Angeklagte teilgenommen hatte, standen zeitlich im Zusammenhang mit dem Bauprojekt. Auch war der Ort in unmittelbarer Nähe zum Stuttgarter Hauptbahnhof im Bereich der Baustellenzufahrt… Die Strafkammer bewertet die friedlich verlaufenden Aktionen des Angeklagten und der anderen Demonstranten, die sich auf bloß passiv wirkende Blockaden beschränken, im Hinblick auf die Verhinderung des Bauprojekts Stuttgart 21 als symbolisch, da auch aus Sicht des Angeklagten die Aktionen nicht zur Aufgabe des gesamten Bauvorhabens geführt hätten. …Die Dauer der Zufahrtssperre war in jedem Einzelfall eher geringfügig. Durch die Blockaden wurden weder der Baustellenbetrieb an den betreffenden Tagen beeinträchtigt noch der gesamte Umbau des Hauptbahnhofes oder gar des Bahnprojekts Stuttgart 21 in maßgeblicher Weise gestört. Art und Ausmaß der Auswirkungen auf betroffene Dritte waren somit geringfügig.“

Unsere jetzigen Angeklagten haben ihre Aktion am Hauptbahnhof gleichzeitig mit unserer ordnungsgemäß angemeldeten Demo anlässlich der Klimabahnkonferenz in Stuttgart durchgeführt. Auch durch das angebrachte Banner S 21 = Klimakiller wurde ihr Anliegen öffentlich gemacht. Auf der Baustelle wurde samstags nicht gearbeitet und die Aktion dauerte gerade mal 2 Stunden.

Doch nun komme ich zum Kern des Vorwurfs Hausfriedensbruch. Offenbar sind die Verantwortlichen der Firma Züblin so sensibel, dass das Überklettern ihres Bauzaunes und das Besteigen ihres Krans ihren Frieden gestört hat, und ihr Gewissen die Stellung eines Strafantrags forderte.

  • Liebe Firma Züblin, stört es Ihren Frieden ebenfalls, dass Sie auf Ihrer Baustelle als der größte Auftragnehmer bei Stuttgart 21 unendlich viele Tonnen von klimaschädigenden Treibhausgasen verursachen?
  • Stört es Ihren Frieden, dass bei der Herstellung der Baumaterialien, insbesondere von Beton und Stahl, noch viel mehr Treibhausgase entstehen?
  • Stört es Ihren Frieden, dass Sie für Ihre Bauarbeiten die weltweit knapp gewordenen Baustoffe anderen wichtigen Projekten wegnehmen und die Preise in die Höhe treiben?
  • Stört es Ihren Frieden, dass durch das Projekt Stuttgart 21 ein guter Bahnverkehr seit vielen Jahren und auf Dauer verhindert wird?
  • Stört es Ihren Frieden, dass Ihre Bauten im Brandfall für Bahnreisende zu Todesfallen werden?
  • Stört es nach dem russischen Angriff auf die Ukraine Ihren Frieden, dass die russischen Oligarchen Oleg Deripaska und Wiktor Felixowitsch Wekselberg als Anteilseigner und Geschäftspartner Ihrer Mutterfirma Strabag für lukrative Auslandsgeschäfte gesorgt haben und möglicherweise indirekt Gewinne aus Ihrer Baustelle ziehen?
  • Stört es Ihren Frieden, dass vor gut einem Jahr bei Starkregen zweimal hintereinander die Schillerstraße überflutet wurde? Wegen Stuttgart 21 ist dort die Kanalisation unterbrochen und die von Ihnen betriebene Pumpstation soll die Abwässer der Schillerstraße in die S21-Baustelle befördern.

Beim Stichwort Frieden fällt mir allerdings auch der Stadtfrieden in Stuttgart ein. Liebe Verantwortliche in der Stadt Stuttgart, stört es Ihren Frieden, dass die Arbeiten für Stuttgart 21 und insbesondere auch die geplante Bebauung des Rosensteinareals das Stadtklima extrem belasten? Stört es den Schlaf der Gerechten, wenn junge Menschen aus Sorge um ihre Zukunft mit dieser Aktion auf die Zusammenhänge hinweisen wollten?

Aufgerüttelt durch diese Klimaaktion habe ich mich in Unterlagen des Amts für Umweltschutz der Stadt Stuttgart vertieft. Vor kurzem erst habe ich im Rahmen eines Antrages auf Akteneinsicht diese erschreckenden Dokumente zu Gesicht bekommen. Es geht dabei um die Belastungen für das Stadtklima, die von der Bebauung des Rosensteinareals ausgehen. Diese Bebauung hängt untrennbar mit Stuttgart 21 zusammen.

Ausweislich des Dokuments „Stadtklimatische und lufthygienische Ziele zur städtebaulichen Entwicklung des Rosensteinquartiers“ vom 13.11.2020 weist das Plangebiet für das Rosensteinviertel 30 Tage pro Jahr mit Wärmebelastung auf und ist mit den Werten der Stuttgarter Innenstadt vergleichbar. Der benachbarte Rosensteinpark und der Schlossgarten kommen demgegenüber nur auf 20 Tage mit Wärmebelastung. Nach einer Berechnung des deutschen Wetterdienstes sei im Bereich des Plangebiets künftig mit zusätzlichen 20 bis 30 Tagen zu rechnen. Das wären jährlich bis zu 60 Tage mit Wärmebelastung im Rosensteinquartier. Die Beurteilung gipfelt in dem Satz: „Mit der Intensivierung der Umnutzung von Gleisanlagen für bauliche Zwecke ist zudem eine unerwünschte Zunahme des urbanen Wärme-Inseleffektes verbunden.“

Noch erschreckender finde ich die Stellungnahme vom 9.9.2021 zur Stadtklimatologie: „Eine weitere Erhöhung der Grundbebauung bzw. im Bereich der genannten Hochpunkte stellt eine stadtklimatische Verträglichkeit in Frage und hat erheblich negative Auswirkung auf die Durchlüftung lokaler Kaltluftströmungen.“

Zu den Auswirkungen der geplanten Bebauung auf die Durchlüftung wird ausgeführt, dass bei einer Höhe der Grundbebauung bis 21 Meter die jahresmittlere Windgeschwindigkeit um nahezu ein Drittel reduziert wird. Wird diese Grundbebauung, was in der Diskussion ist, zusätzlich mit 30-Meter-Hochpunkten durchgeführt, reduziert sich die Windgeschwindigkeit um nahezu 40 %. Wörtlich: „In allen Höhenniveaus ist eine deutliche Reduzierung der Windgeschwindigkeit bzw. in 10 m Höhe und bodennah ein vollständiger Verlust festzustellen.“ Auf Deutsch: Unten wird kein Wind mehr wehen und es gibt Hitzetote.

Aussage zum Mineralwasser : „Das Gebiet Rosenstein tangiert die Kern-, Innen- und Außenzone des Heilquellenschutzgebietes.“

In der Anlage Biotope heißt es, dass die Schotter- und Feingrasflächen überregionale Bedeutung als Biotop haben. Verarmt oder stark verarmt seien dagegen alle dicht bebauten Flächen des Untersuchungsgebietes. Die Flachdächer der Südwest-LB seien ebenfalls verarmt.

Anders gesagt: Eine Bebauung des Rosensteins geht in Zeiten des Klimawandels gar nicht mehr. Weil das Amt für Umweltschutz dazu schweigt, fordere ich: Planungsstopp jetzt!

Liebe Freundinnen und Freunde, wenn schon die Firma Züblin und die in der Stadt Stuttgart für das Klima Verantwortlichen trotzdem ihren Frieden haben, so sollten wenigstens wir den Frieden stören. Wir weisen weiter auf die berechtigten Forderungen der Angeklagten hin und unterstützen sie bei der Demo am kommenden Mittwoch um 11:30 Uhr vor dem Amtsgericht Stuttgart. Und für Kranbesteiger gilt ganz besonders:

Oben bleiben!

Rede von Dieter Reicherter als pdf-Datei

 

 

 

 

 

 

 

 

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein abgelegt und mit , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.