Rede von Joe Bauer, Autor und Journalist, auf der 722. Montagsdemo am 2.9.2024
Schönen guten Tag, verehrte Protest-Gemeinde,
es ist September geworden – und dunkler in Deutschland. Über die Wahlergebnisse im deutschen Osten muss ich nicht viel sagen. In Thüringen zieht zum ersten Mal seit der Befreiung vom Faschismus und dem Nazi-Terror 1945 eine rechtsextreme Partei als stärkste Kraft in ein deutsches Parlament ein. In Sachsen ging ein Drittel der Stimmen an die Rechtsextremen. Was erschwerend hinzukommt: Den Rechtsextrem ist es gelungen, die Wahlbeteiligung entscheidend zu erhöhen. Zur Stunde findet dazu auf dem Rotebühlplatz eine Kundgebung des Antifaschistischen Aktionsbündnisses Stuttgart statt. Gefragt sind jetzt alle, die eine antifaschistische Haltung haben.
Gut, werden einige sagen, es waren halt Wahlen im Osten. Der Begriff Osten klingt bei uns ja oft so, als würden dort Aliens leben. Irgendwelche Wesen, die mit uns nichts zu tun haben – und auf die wir herabschauen können. Diese Denkweise aber ist grob fahrlässig, ein Selbstbetrug, der das spiegelt, was unsere herrschenden Verhältnisse prägt: Menschen, die existenzielle Probleme haben, bekämpfen nicht etwa die, die für diese Probleme verantwortlich sind. Sondern sie hetzen gegen die, die sie noch eine soziale Stufe unter sich sehen – um ihnen die Schuld für alles Mögliche zu geben. Das ist das klassische Sündenbock-Prinzip. Wohin das führt, wissen wir aus unserer Geschichte. Nebenbei: Höcke ist kein Ostler, er kommt aus Westfalen und ist ein Allround-Faschist.
Warum die politischen Verhältnisse in Sachsen und Thüringen sind, wie sie sind, dafür gibt es reichlich Gründe. Die kann ich hier nicht erörtern. Ganz sicher aber ist es nicht so, dass in gewissen Gegenden schlechte Menschen geboren werden und in anderen bessere. Vielmehr ist es so, dass die wirtschaftliche Entwicklung in dieser Republik eine fatale, eine brandgefährliche Ungleichheit und Ungerechtigkeit geschaffen hat. Und es ist nicht zu leugnen, dass viele Menschen im Osten noch härter unter miesen Bedingungen zu leiden haben als wir im Westen.
Wenn wir mal eine Minute nachdenken, werden wir feststellen, dass die skandalös ungerechte Verteilung der finanziellen Mittel das wahre Übel und mitverantwortlich für den Rechtsdrall ist. Die Schere zwischen Unten und Oben, zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander. Die Umverteilung findet von unten nach oben statt – da greift sich selbst mal ein Milliardär an den Kopf, weil er weiß, dass fehlendes Geld in den unteren sozialen Regionen die kapitalistische Wirtschaft kaputtmacht.
Und zwischendurch sollten wir uns, die die ganze Sache etwas kritisch sehen, mal an die eigene Nase fassen. Das gilt auch für den Protest gegen Stuttgart 21. Wie lange hat es gedauert, bis der größere Teil der Protestbewegung verstanden hat, dass Stuttgart 21 kein Bahnhofsdrama, sondern ein Immobilienprojekt ist – ein unredliches, menschenfeindliches Geschäft mit Grund und Boden, ein übles Geschacher mit Häusern und Wohnungen, die die Menschen dringend brauchen. Bis heute fehlt vielen bei uns das Bewusstsein für die Wohnungsnot, für die Unmöglichkeit, noch an eine bezahlbare Bleibe zu kommen. Wer eine Wohnung hat und sie bezahlen kann, protestiert nicht gegen die verheerende Wohnungspolitik, die schon vor vielen Jahren begonnen hat. Und wer keine hat, resigniert oft oder schweigt in der Hoffnung, bald mal Glück zu haben.
Generell ist es so: Der seit 40 Jahren herrschende Neoliberalismus mit seiner Propaganda für eine durch und durch egoistische Lebensweise hat viel solidarisches Denken in der Gesellschaft zerstört. Immer nach dem Motto: Wer nicht reich ist oder gar arm, der hat selber Schuld.
Die existenziellen Bedrohungen, die ständig steigenden Preise für das Notwendige, für Lebensmittel oder Energie, machen unterdessen nicht vor der sogenannten Mitte der Gesellschaft halt. Viele Löhne sind zu niedrig. Hinzu kommen die Militarisierung, die Kosten für die Aufrüstung und Waffenlieferungen. Es herrscht allenthalben Verunsicherung. Verunsicherung erzeugt diffuse Angst – und die Reaktion ist meist simpel: Man wettert gegen die aktuelle Regierung und wendet sich der populistischen Opposition zu.
Die Propaganda der Populisten, sie allein wüssten genau, was das sogenannte Volk will und braucht, ist pures Gift. Und so wählen nicht nur die, die seit eh und je rassistisch und nationalistisch denken, die Faschisten. Sondern es wählen aus Protest auch die die Rechten, die noch gar nicht unbelehrbar völkisch oder rassistisch denken. Was rechtsextrem bedeutet, ist ihnen meist Wurscht. Hauptsache, die da oben bekommen ihr Fett weg.
Das alles lässt sich relativ leicht analysieren. Die große Frage aber lautet: Was tun wir dagegen? Was können wir dagegen tun? Wir kennen alle die Sprüche und Bildchen aus dem Internet: Wir sind mehr. Gemeinsam sind wir stark. Für Demokratie und Vielfalt.
Die Vielfalt ist längst zu einem Werbebegriff verkommen. Und in Wahrheit spielt es keine Rolle, ob wir tatsächlich mehr sind. Die Rechtsextremen mit ihrer Holzhammer-Propaganda, die nun mal emotional funktioniert, brauchen keine Mehrheiten, damit das Klima in unserer Gesellschaft kippt. Da reichen schon zehn Prozent der Stimmen, um reichlich Unheil zu stiften. Und sind es erst einmal 30 Prozent oder gar mehr, dann haben sie fast schon gewonnen. Das wissen wir aus der Forschung und aus unserer Geschichte.
Leider aber ist es so, dass wir, die wir auf der demokratischen, auf der linken demokratischen oder meinetwegen auch auf der bürgerlichen demokratischen Seite stehen, keine Sprache gegen die Hass- und Lügenpropaganda von rechts gefunden haben. Genauso wenig wie gegen die gerissenen, scheinheiligen Versprechungen der extrem Rechten, die vorhat, demokratische Errungenschaften abzuschaffen und das System zu stürzen. Der Kulturkampf von rechts gegen eine halbwegs weltoffene Lebensweise ist seit vielen Jahren im Gange, ohne dass er bemerkt und begriffen wurde.
Unsere üblichen Parteien, aber auch nicht scharf rechts orientierte Bürgerinnen und Bürger reden unterdessen fleißig von der Demokratie, ohne je zu sagen, welche Demokratie sie eigentlich meinen. Meinen sie die Demokratie, in der es immer schwieriger wird, eine Wohnung zu finden? Oder die Demokratie, in der es für immer mehr Menschen immer härter wird, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten? Oder vielleicht doch eine Demokratie, in der es mehr Gerechtigkeit gibt als jetzt?
Es hat keinen Sinn, wenn die Parteien von Grün bis Schwarz ihre Politik nur noch darauf ausrichten, Regierungsbeteiligungen der AfD zu verhindern, während sie als vermeintliche AfD-Verhinderer immer öfter selber die Politik der Rechten übernehmen. Man verteidigt den Rechtsstaat nicht, indem man ihn abschafft. Und fortwährend die Pizza-Buden-Floskel „wir werden liefern“ verbreitet.
Und wenn wir vom Nährboden für den Rechtsruck sprechen: Ich muss hier nicht sagen, wie islamistische Attentate das soziale Klima zerstören und den Rechten dienen. Islamisten und Rechtsextreme sind Brüder im Geiste: Sie lehnen eine Gesellschaft mit demokratischen Freiheiten ab. Sie starten Kreuzzüge gegen alle, die nicht in ihr totalitäres Weltbild passen. Den Terror aber kann man nicht bekämpfen, indem man den am Terror Unbeteiligten die soziale Unterstützung entzieht. Das Migrationsproblem wird nicht gelöst, indem man das Asylrecht abschafft. In Zukunft werden Fluchtbewegungen zunehmen, weil die Klimakrise und die wirtschaftliche Ausbeutung ganzer Länder sehr vielen Menschen die Lebensgrundlage entziehen.
Und jetzt noch mal zum Kern meiner Betrachtung: Wir dürfen nicht auf den deutschen Osten starren im Glauben, dort herrsche das wahre Problem. Sobald wir unsere städtischen Blasen verlassen, wenn wir in den Schwarzwald, in den Odenwald oder in den Rems-Murr-Kreis gehen, haben wir genügend Osten vor der Haustür.
Ich bin so frei zuzugeben, dass ich nicht weiß, mit welchen handwerklichen Mitteln wir den Vormarsch faschistischer oder populistischer rechtsextremer Kräfte stoppen können. Welche Sprache, welche Parolen, welche emotionalen Botschaften wir brauchen, um den Hass-, Hetz- und Lügenstrategien der Rechten etwas entgegenzusetzen.
Sicher ist: Wir brauchen unsere eigene Sprache, unseren eigenen Sound, eine eigene emotionale Kraft. Ich glaube fast, in den USA entsteht auf diesem Gebiet gerade etwas im Kampf gegen Trumps Schreihals-Beschallung der Amerikaner. Da spielt auch der Humor eine Rolle. Wer zuletzt lacht – das sollte nicht der Nazi sein. Es sei denn, er lacht zum letzten Mal.
Wichtig ist, dass sich alle, die bei uns demokratische Rechte verteidigen wollen, sich bei allen sich bietenden Gelegenheiten zusammentun. Es kann bei außerparlamentarischen Aktionen nicht darum gehen, ständig Scholz oder Baerbock, Lindner, Merz oder Söder anzugreifen und speziell die Grünen fertigzumachen. Binsenweisheiten und Beleidigungen bringen Beifall, aber keine Veränderungen.
Wir müssen es schaffen, uns mit allen demokratisch gesinnten Kräften zusammenzutun – ohne Berührungsängste und Scheuklappen. Wir müssen uns untereinander organisieren und über unseren Schatten springen, Adressen austauschen, Kontakte herstellen – bei Demos, bei allen Veranstaltungen, die sich gegen die faschistischen Attacken richten. Angriffe, die sich im Übrigen nicht nur auf geistiger oder psychischer Ebene bei Versammlungen und im Internet abspielen. Auch der rechte Terror lebt.
In diesem Sinne, liebe Protest-Gemeinde: Der Osten, den wir meinen und in Wahrheit oft überhaupt nicht kennen, ist ganz sicher nicht nur im Osten. Er ist überall!
Vielen Dank.