Stuttgart 21 wurde schon im Finanzierungsvertrag als Rückbau vereinbart.

Aus der Personenstromanalyse von 1997 und 2009 sowie den Untersuchungen von Dr. Christoph Engelhard ergibt sich, dass der geplante Tiefbahnhof nicht 49, sondern nur 32 Züge pro Stunde bewältigen soll. Nachdem niemand dieser Feststellung ausdrücklich widersprach, habe ich mich bei denen erkundigt, die es wissen oder an dieser Information interessiert sein müssten, ob es irgendein Dementi gebe. Vergebens habe ich bei der Bahn selbst, bei Politikern und Behörden angefragt, ob dort irgendwelche Erwiderungen der Deutschen Bahn AG bekannt seien, aus denen sich ergebe, dass die angenommene Zahl von 32 Zügen pro Stunde in Wirklichkeit keinen Rückbau bedeute.

Der entscheidende Hinweis kam von dem unvermeidlichen Oberstaatsanwalt Häußler.
Rechtsanwalt Roland Butteweg und Jens Löwe hatten bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart eine Strafanzeige gegen die Deutsche Bahn erstattet, der sie Betrug vorwarfen, weil sie statt der versprochenen Leistungssteigerung in irklichkeit einen Rückbau des Bahnhofs plane.
Herr Oberstaatsanwalt Häußler teilte den beiden Anzeigeerstattern pflichtgemäß mit, es lägen keine zureichenden Anhaltspunkte für eine Straftat vor, der Anzeige werde „keine Folge gegeben“.
In der Begründung verwies er darauf, auch der Verwaltungsgerichtshof in Mannheim sei bereits in seinen Entscheidungen vom 06. April 2006 von lediglich 32 bis 35 Gleisbelegungen pro Stunde ausgegangen.

Von diesem Hinweis bis zur entscheidenden Fundstelle war es nur noch ein kleiner Schritt.
In der Entscheidung 5 S 848/05 weist das Gericht eine gegen den Planfeststellungsbeschluss PFA 1.1 vom 28.01.2005 gerichtete Klage ab und führt in der Begründung aus, der achtgleisige Durchgangsbahnhof reiche „für abgestimmte Betriebsprogramme mit 32 bis 35 Gleisbelegungen pro Stunde aus“ (Randziffer 59).

In der Tat heißt es im Planfeststellungsbeschluss auf Seite 204, die geplante Anlage reiche für „Betriebsprogramme mit 32 bis 35 Gleisbelegungen pro Stunde aus“. Beim „Szenario E“ seien sogar 39 Gleisbelegungen pro Stunde möglich.
Nun hat es wirklich ein Ende mit Sucherei und Mutmaßungen. Der Rückbau ist amtlich. Anstelle der im Kopfbahnhof möglichen 50 und mehr Züge pro Stunde soll die Leistungsfähigkeit im Durchgangsbahnhof auf 32 bis 35 Züge, also um ein Drittel reduziert werden.

Daraufhin habe ich mir den Finanzierungsvertrag vom 2. April 2009 erneut vorgenommen.
Und siehe da: In § 3 wird auf Anlage 3.3a verwiesen, in der auch der erwähnte Planfeststellungsbeschluss genannt wird. Wer den ganzen Vertrag nebst Anlagen gelesen hat, wusste also, was gespielt wird; aber die Verringerung der Leistungsfähigkeit auf 32 bis 35 Züge ist schon ziemlich gut versteckt, auf Seite 204 eines 389 Seiten umfassenden
Schriftstücks, das in einer von 21 Anlagen erwähnt wird.

Wer hat hier nun wen zum Narren gehalten? Liegt hier vielleicht auch die Erklärung für die sybillinische Äußerung von Kretschmann, alle hätten sich informieren können? Müssen wir uns alle an die eigene Nase fassen? Wer hätte uns gehindert, uns den Planfeststellungsbeschluss zu besorgen und zu studieren? Andererseits: Konnten wir – oder mussten wir gar – erwarten, mit einer solchen Unverfrorenheit in die Irre geführt zu werden? Bei der sog. Schlichtung und beim ganzen Stresstest ging es um die Leistungsfähigkeit des Tiefbahnhofs.

Verbissen wurde nach der Simulation der Firma SMA darum gestritten, ob der Durchgangsbahnhof mit seinen acht Gleisen 49 Züge pro Stunde bewältigen könne. Keiner von uns musste auf die Idee kommen, dass das Ganze nichts war als ein gigantisches Ablenkungsmanöver.

Vielleicht finden sich unter unseren Politikerinnen und Politikern welche, die nun selbst überrascht sind. Sie hätten jetzt die Chance, sich empört von dem bösen Spiel abzuwenden. Unsere Politiker leugnen ihre Verantwortung für den weiteren Gang der Dinge mit Hinweis auf die Volksabstimmung. Das geht nicht mehr. Die Bürgerinnen und Bürger haben jedenfalls nicht für den Rückbau gestimmt. Die SPD hat für das Projekt geworben mit dem Argument, S 21 habe den Stresstest bestanden, „bei dem in der Spitzenstunde 30 Prozent mehr Züge als heute angenommen wurden“, und sei damit als leistungsfähiger Bahnknoten bestätigt worden. Sich jetzt noch hierauf zu berufen, ist unredlich und dreist. Von einer auf Lügen aufgebauten Abstimmung eine Befriedung zu erwarten, ist eine Verhöhnung der Demokratie.

Kretschmann und Kuhn betonen bei jeder kritischen Frage, wie sehr sie sich an die Volksabstimmung gebunden fühlen. Kretschmann hat seine Chancen zur Einsicht wohl schon vertan; aber Kuhn könnte noch glaubhaft überrascht sein.
Was aus diesen Feststellungen juristisch folgt, werden wir nun im Kreise der Juristen zu Stuttgart 21 überlegen müssen.
- Täuschung und daraus resultierende Anfechtungsrechte scheiden zumindest im Verhältnis der am Projekt beteiligten Parteien untereinander aus.
- Subventionsbetrug hingegen rückt verstärkt in den Blick. Die europäischen 114 Millionen werden wohl kaum für einen Rückbau gespendet.
- Gemäß § 11 des Allgemeinen Eisenbahngesetzes müsste eine „mehr als geringfügige Verringerung der Kapazität einer Strecke“ beim Eisenbahnbundesamt beantragt werden. Ein Drittel ist mehr als geringfügig. Von einem solchen Antrag ist bisher nichts bekannt.
- In allen Verfahren, bei denen es künftig auf die Abwägung zwischen Einzelinteressen und Gemeinwohl ankommt, kann der bisher geflissentlich verschwiegene Gesichtspunkt des Rückbaus eine Rolle spielen – allerdings nicht in den Fällen, in denen die Projektträger sich auf die Entscheidung des VGH mit 32 bis 35 Zügen pro Stunde berufen können.
Ein großes Problem sehe ich in der Verwahrlosung des Rechtsverständnisses. Neben der Funktion des Konfliktmanagements gehört zu den Aufgaben von Recht auch die Gewährleistung von Verlässlichkeit und Ordnung, mit der Folge, dass immer auch bestehende Verhältnisse und Machtverhältnisse stabilisiert werden; aber das Recht hat auch der Macht Grenzen
zu setzen. Diese vornehmste Aufgabe des Rechts und auch das Konfliktmanagement kommen derzeit zugunsten des Machterhalts unter die Räder. Die Mächtigen instrumentalisieren das Recht, indem sie formale Rechtspositionen gegen legitime Bedürfnisse der Menschen ausspielen.

Damit untergraben sie die Fähigkeit des Rechts, Frieden zu stiften.
Auch außerhalb der juristischen Denkwelt haben wir jedenfalls das Recht und die Pflicht zu Empörung und Misstrauen – und zum
OBEN BLEIBEN!  -

Christoph Strecker - Finanzierungsvertrag sieht Rückbau vor. Als PDF HIER

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6 Antworten zu Stuttgart 21 wurde schon im Finanzierungsvertrag als Rückbau vereinbart.

  1. Aufgeklärter sagt:

    Walli schreibt: „In der Tat heißt es im Planfeststellungsbeschluss auf Seite 204, die geplante Anlage reiche für „Betriebsprogramme mit 32 bis 35 Gleisbelegungen pro Stunde aus“. Beim „Szenario E“ seien sogar 39 Gleisbelegungen pro Stunde möglich.“ Man muß wissen, Szenario E wird NICHT gebaut. Die 32 bis 35 Züge beziehen sich auf den A-Fall, welche die DB AG beabsichtigt zu bauen. Beim A-Fall soll S21 wie allgemein bekannt gebaut werden, ohne den eh schon stark beanspruchten Zulauf aus Ri Zuffenhausen z. B. auf vier Gleise auszubauen (dann wäre es der E-Fall). Die Aussage der 32 bis 35 Züge bezieht sich auf Aussagen und Tabellen in Schwanhäußers „Ergänzende Untersuchungen“ Teil 3.

  2. Aufgeklärter sagt:

    Noch ein Nachtrag: Jens Loewe hat das Schreiben der Staatsanwaltschaft veröffentlicht. Siehe HIER.

  3. Pingback: Kommentar zum vereinbarten Rückbau | Bei Abriss Aufstand

  4. martin mueller sagt:

    Hiermit kann erkannt werden , das hier in Stuttgart eine kriminelle Kaste am Werke sowie in der Regierungsverantwortung ihr Unwesen treibt.Auch die Grünen müssen dazu gezählt werden , denn die scheinen uns aus Machtgier total verar…. zu haben. Somit ist das Vertrauen in die Politik und Politiker völlig zerstört.

  5. Uwe sagt:

    Man lese sich bitte mal genau die PE des VGH im Jahr 2006 durch. Dieser VGH geht und ging von einer erheblichen Leistungssteigerung aus, nicht von einem Rückbau. Die ausführliche schriftliche Version der Gerichtsbeschlusses wäre lesenswert; sie ist sehr stark kontextabhängig und wohl auch widersprüchlich. Häußler ist jedenfalls nicht das Maß aller Dinge. Möglicherweise kann auch gegen sein Ablehnungsbegründung Einspruch erhoben werden.

    • K. Neumann sagt:

      Nein. Für Häussler ist die Sache mit dem durchsichtigen Ablehnungsbescheid vollkommen erledigt. Dienstaufsichtsbeschwerde greift in keinem Fall, da er sich im Wesentlichen auf den VGH beruft und da an den Urteilen entlang hangelt.

      Zur Erinnerung nochmals OT Geissler zu dem 2006 VGH Urteil zitiert aus der StZ: „Mit der Aussage „Wenn das die Leute wüssten, würden sie sich schon sehr wundern“, reagierte der 80-Jährige darauf, dass die Richter damals offenbar keine neutralen Gutachter verpflichtet hatten, sondern sich bei ihrer Entscheidungsfindung auf den Sachverstand jener drei Experten stützten, die von der Bahn bestellt worden waren: Wulf Schwanhäußer, Mitglied im Konzernbeirat der Bahn, Gerhard Heimerl vom verkehrswissenschaftlichen Institut der Uni Stuttgart, der vor Gericht seine eigenen Pläne begutachtet hatte sowie sein Nachfolger Ullrich Martin, der mittels Simulation dem Tiefbahnhof eine größere Leistungsfähigkeit gegenüber K 21 attestierte.“Wenn das die Leute wüssten

      Und dann dürfen wir uns als mehr bewusster Teil über die Ungeheuerlichkeiten, die hier abgehen, nicht all zu sehr verschätzen in der öffentlichen Wahrnehmung dieses schamlosen Treibens aller beteiligten Verfassungsinstitutionen: diese werden entsprechend der medialen Blockade und oft auch völliger Ignoranz auch in gebildeteren Kreisen kaum als solche wahrgenommen. Insofern können sich Grüne und Rote weiterhin alles das leisten, was sie sich bisher an bodenlosen Unverschämtheiten auch geleistet haben. Aber es scheint Licht am Ende des Tunnels zu geben: die SPD will offenbar dieses tote Pferd S21 nicht mehr reiten! HIER

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