Der 5. Jahrestag Schwarzer Donnerstag: Rede von Martin Poguntke

Rede von Martin Poguntke, TheologInnenn gegen S21, bei der Kundgebung am 30.9.2015

Liebe Freundinnen und Freunde des Stuttgarter Kopfbahnhofs!

Das Vorbereitungsteam hat mich gebeten mit meinem heutigen Redebeitrag den 30.9. ein wenig in den Gesamtzusammenhang des Themas „weltweite Demokratie“ einzuordnen. Das will ich gerne tun. Auch wenn dann eben heute mal nicht der Pfarrer in mir zu Ihnen spricht.

Wir sind eine Demokratiebewegung geworden
Spätestens seit dem 30.9.2010 wissen wir, dass es bei Stuttgart 21 keineswegs nur um einen Bahnhof geht, sondern um viel, viel mehr. Was Kanzlerin Merkel so schön positiv formuliert hat, es gehe um die „Zukunftsfähigkeit Deutschlands“, das meint in Wahrheit: Es geht um die Zukunftsfähigkeit der Politik. Die Politik muss der Wirtschaft gegenüber beweisen, dass sie sich gegen die Bevölkerung durchsetzen kann.

Viele unter Ihnen, liebe Freundinnen und Freunde, haben am 30.9. ihre entscheidende Politisierung erlebt! Für viele war es nicht einfach, von der liebgewordenen friedlichen Vorstellung Abschied zu nehmen, hier im Lande laufe schon alles nach Recht und Ordnung ab. Aber spätestens seit dem 30.9. sind wir von einer in Teilen naiven Bahnhofs-Erhaltungs-Bewegung zu einer ernst zu nehmenden Demokratie-Bewegung geworden, die auch politisch oben bleiben will!

„Marktkonforme Demokratie“ ist keine Demokratie
Und als diese wache Bewegung haben wir entdeckt: Das ist gar nicht nur beim Projekt S21 so, dass Demokratie und Rechtsstaatlichkeit mehr und mehr unter die Räder kommen. Sondern es gehört zum „System 21“ – so nennen wir das ja inzwischen oder auch das „S21-Prinzip“ –, dass bundesweit, ja weltweit auf diese Weise gearbeitet wird, wie wir es hier rund um S21 erleben.

Die Politik ist zu einem Bereich geworden – oder vielleicht ist sie es auch schon immer gewesen –, der gar nicht mehr in erster Linie das Wohl der Bevölkerung zum Ziel hat, sondern die Selbsterhaltung der Politik. Die Politik erhält sich ihre vermeintliche Macht, indem sie willig Großprojekte durchwinkt, die ausschließlich den Sinn haben, öffentliche Gelder in private Hände zu schleusen.

Weltweit ist das zu beobachten: Demokratie wird noch im Schaufenster präsentiert, aber drinnen im Laden geht‘s nur noch darum, wie die Politik das aberwitzige Schneeballsystem namens Wirtschaftswachstum erhalten kann. „Marktkonforme Demokratie“ nennt unsere Kanzlerin das, und sie meint nichts anderes damit, als dass sich unsere Demokratie den Bedürfnissen der Wirtschaft und dem Wirtschaftswachstum zu unterwerfen hat.

Dann ist es aber keine Demokratie mehr, liebe Freundinnen und Freunde. Denn Demokratie heißt: Die Macht geht vom Volke aus und nicht von einer Wirtschaftselite und auch nicht von einem selbst herbei geredeten Sachzwang – einem Wirtschaftswachstum, das nur denen dient, die ohnehin schon genug haben.

Mit TTIP soll das Regieren abgeschafft werden
Und genau in diese Entwicklung der fortschreitenden Entdemokratisierung gehört auch das, was wir von TTIP, CETA und TISA erfahren, und wie sie alle heißen, diese geplanten internationalen Abkommen. Einen für das Thema Demokratie zentralen Punkt will ich hervorheben: Wenn diese Abkommen umgesetzt werden, dann kann jeder Wirtschaftsakteur, der durch irgendeinen Regierungsbeschluss Nachteile hat, deshalb vor Gericht gehen und ganze Regierungen verklagen.

Diese Gerichte sind übrigens eine deutsche Erfindung: Seit vielen Jahren bereits können nämlich deutsche Unternehmen in nicht-staatlichen Schiedsgerichten gegen missliebige Regierungen ihre Gewinninteressen durchsetzen. Und zwar – und das ist für einen demokratischen Rechtsstaat eine Katastrophe – und zwar, ohne dass vor irgendeinem Gericht der Welt Revision möglich wäre.

Erst durch den europaweiten Protest gegen TTIP rudert nun die deutsche Politik ein wenig zurück und setzt sich ein bisschen dafür ein, dass dafür ordentliche, staatliche Gerichte zuständig sein sollen.

Aber ganz egal, ob das ein privates Gericht oder ein ordentliches staatliches ist: Wenn diese Möglichkeit, Regierungen zu verklagen, weltweit festgelegt wird, dann können Regierungen nur noch Gesetze beschließen, durch die niemand in der Wirtschaft Nachteile hat. Das heißt im Klartext: Durch TTIP soll das Regieren abgeschafft werden. Regieren darf nur noch die Wirtschaft, nicht mehr die gewählten Regierungen.

Wenn aber unsere Regierungen einem solchen Ansinnen auch noch zustimmen, dann stimmen sie ihrer Selbstentmachtung zu – und damit unserer Entmachtung. Da platzt mir der Kragen, wenn ich sowas höre. Da kann ich nicht schweigen. Da muss ich zu der Anti-TTIP-Demo am 10. Oktober nach Berlin.

Mit S21 untergräbt unsere Politik ihre eigenen Ziele
Was das mit uns hier, mit unserem Kampf gegen S21 zu tun hat?

Auch hier haben die Parlamente sich sehenden Auges selbst entmachtet, haben S21 durchgewunken und mit Gewalt durchgesetzt – weil sie sich nur einer Instanz gegenüber verantwortlich fühlen: der Wirtschaft und ihren Wachstumsmöglichkeiten.

Dabei dient S21 ja nur ganz kurzfristig der Wirtschaft, indem diese eben hier für ein paar Jahre was zu investieren hat. Aber selbst innerhalb der Logik dieser Wirtschaftslobbyisten ist das falsch gedacht, aus der Zerschlagung unserer Stuttgarter Verkehrsinfrastruktur Geld zu machen. Denn längerfristig ist eben genau diese Wirtschaft doch auch auf eine funktionierende Infrastruktur angewiesen. Und diese Wirtschaft wird deshalb längerfristig die Region Stuttgart verlassen und sich dort ansiedeln, wo klügere Politiker klügere Infrastruktur umgesetzt haben. Und unsere Politiker werden dann hier in Stuttgart vor leeren Investitionsruinen sitzen. Und sie werden sie – wieder, um der Wirtschaft einen Gefallen zu tun – zu Spottpreisen verscherbeln. Und wieder zu unserem Schaden, denn es ist unser Geld, das da reingesteckt wurde und das dann nicht wieder herausgeholt werden kann.

Der S21-Protest ist Teil einer weltweiten Bewegung
Den weltweiten Zusammenhang sehe ich in zweifacher Weise:
Einerseits ist das Projekt Stuttgart 21 nur ein kleine zufällige Konkretion einer weltweit herrschenden Geld-Vermehrungs-Maschine – sodass man sich fragt: Lohnt denn der Kampf hier im kleinen Stuttgart überhaupt?

Andererseits ist aber auch unser S21-Protest Teil einer weltweiten Gerechtigkeits- und Demokratie-Bewegung, die weltweit überall an den – scheinbar! – unbedeutenden lokalen Baustellen kämpft. Denn dieses weltweite zerstörerische Wirtschaftssystem lässt sich nicht abstrakt bekämpfen, sondern nur konkret, vor Ort – für uns: hier in Stuttgart.

Vernetzt mit den Gerechtigkeits- und Demokratie-Bewegungen weltweit, kämpfen wir hier in Stuttgart Arm in Arm mit all den anderen am Frankfurter Flughafen, im italienischen Susa-Tal, in Griechenland, in der Türkei, überall, wo Menschen gegen Ungerechtigkeit und für Demokratie auf die Straße gehen.

Global denken, lokal handeln – die alte Losung der „Eine-Welt-Bewegung“ – das ist es, was wir auch hier tun und weshalb unser Streit gegen S21 ein hoch politischer ist. So politisch, dass man uns schon am 30.9.2010 für „wert“ befunden hat, uns mit einer polizeilichen Gewaltorgie zu überziehen.

Und deshalb gratuliere ich Ihnen, dass Sie heute Abend hier sind. Und dass Sie seit vielen Jahren hier sind. Und dass Sie noch viele Jahre hier bleiben und kämpfen werden. Denn – auch, wenn S21 eines Tages an seinen eigenen Unzulänglichkeiten zerbrechen wird – unser Widerstand wird weiterhin gebraucht: gegen die Zerstörung unserer Stadt, gegen die Umweltzerstörung weltweit, gegen die Demokratiezerstörung weltweit, gegen das weltweite S21-Prinzip. Oben bleiben!

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