Verträge sind zum Ändern da!

Rede von Tom Adler, Demoteam, auf der 589. Montagsdemo am 29.11.2021

Meine Damen und Herren, liebe Freund*innen von Vernunft und Kopfbahnhof,

manchmal ist es so, dass sich die Ereignisse überschlagen – sodass sogar wir, trotz unserem sensationellen wöchentlichen Protest-Rhythmus es kaum schaffen, in einer Rede auf die allerneuesten Entwicklungen einzugehen.

In der letzten Woche hießen die Schlagzeilen: schlimme Dynamik der Corona-Erkrankungen – Ampelkoalitionsvertrag – ein neuer FDP-Verkehrsminister, der seine Absage an eine Verkehrswende hinausposaunt, bevor er überhaupt im Amt ist – und von Scheuer dafür gelobt wird…

Und dann kam dieser spannende Artikel in der Financial Times Deutschland, der den Scheinwerfer auf die Korruption im Skandal-Projekt S21 richtet. Norbert Bongartz hat dazu schon einiges gesagt. Das Stuttgarter Pressehaus zitiert diese wichtige Recherche grad mal in einem kleinen Artikel, als wäre das eine Bagatelle von irgendwo. Leider braucht es für solche investigativen Recherchen offenbar Blätter, die mit dem Skandalprojekt und seinen Machern nicht so verfilzt sind wie der Stuttgarter Zeitung/Stuttgarter Nachrichten-Konzern.

Über all das wird es in den kommenden Online-Demos Beiträge geben, über die verkehrspolitische Schande der Ampel und die Tiefen des Tunnelbahnhof-Korruptionssumpfes. Kommenden Montag wird z.B. Winfried Wolf dazu auf Oben-Bleiben-TV sprechen.

Heute soll es um den geplanten Deal zwischen Stadt und Bahn zur „Beschleunigung“ der Rosensteinbebauung gehen – man könnte zynisch sagen: den Vertrag zur Beschleunigung der Klimakatastrophe und zur Aushebelung des Artenschutzrechts. Eingefädelt noch von OB Kuhn und gebilligt von den Tunnelparteien einschließlich der Grünen.

Die Stadtspitze hat sich vom Stadtrat schon 2020 den Auftrag geben lassen, mit der Bahn über „Details zum Gleisrückbau und zur Realisierung der städtebaulichen Planung“ zu verhandeln. Was in dieser Mitteilung des OB damals ganz unspektakulär daherkam, birgt aber tatsächlich einigen Sprengstoff und offenbart ein weiteres Mal, dass das Tunnelbahnhofsprojekt von Desaster zu Desaster stolpert.

Denn die Bahn plant bisher den Gleisrückbau auf Basis der Verträge, die mit der Stadt zwischen 2001 und 2009 abgeschlossen wurden. Und die sehen vor, das Gelände zwischen 2035 und 2037 geräumt für anschließende Bebauungsplanverfahren der Stadt zu übergeben. Weil Bebauungsplanverfahren langwierig sind, wäre Bauen auf den Gleisanlagen also erst Ende der 30er, Anfang der 40er Jahre möglich. Und damit wäre das allerletzte, positiv aufladbare Argument der Stuttgart-21-Befürworter in Verwaltung und Stadtrat für das Weiterbauen Makulatur: der Wohnungsbau.

Das Rosensteinviertel und seine Wohnungsbaupotentiale entpuppen sich als das, was sie sind: ein Phantom, mit dem der ganzen Stadt über Jahrzehnte Verkehrs-Chaos, grandiose finanzielle und klimatische Belastungen und die Zerstörung des funktionierenden Kopfbahnhofs verkauft werden.

Liebe Freund*innen, ich muss an dieser Stelle etwas ausholen: wie kurzsichtig diese Propagandafigur „Wohnungsbau Rosensteinviertel löst Wohnungs- und Mieter-Not“ ist, das zeigen auch die Zahlen: die Wohnbevölkerung Stuttgarts schrumpft seit Ende 2018, und sie wird weiter zurückgehen. Das ist keine vorübergehende Delle, auch das statistische Bundesamt hat ab Anfang der 30er Jahre einen spürbaren Rückgang der Bevölkerungszahlen selbst für die Großstädte vorhergesagt.

Aber in Stuttgart explodieren die Mieten weiter, trotz abnehmender Einwohnerzahl, sprich: nicht mehr weiter wachsender Nachfrage! Genau da muss doch z.B. mit Mietendeckelung angesetzt werden, um den Druck von Mieter*innen und Mietern zu nehmen. Die Antwort auf Mietenexplosion heißt eben nicht: bauen, bauen, bauen!

Sie scheinen im Rathaus auch immer noch nicht verstanden zu haben, wie klimaschädlich die Bauindustrie ist und wie eng unser Zeitfenster – 10 Jahre! –, das wir noch haben, um zu verhindern, dass die Klimakipppunkte unwiderruflich in Bewegung gesetzt werden!

Kein Gedanke daran, allein aus diesem Grund die grotesken, ja obszönen Argumentationsgebäude für die Rosensteinbebauung und das Weiterbauen mal auf den Prüfstand zu stellen!

Mit den Verhandlungen und dem jetzt vorliegenden Ergebnis will die Stadtspitze vielmehr von diesen Argumentations-Ruinen retten, was zu retten ist – wenigstens für den Moment. Während die Mieten weiter steigen, lügen sich Verwaltungsspitze und Gemeinderatsmehrheit weiter in die eigene Tasche, und da passt womöglich beim einen oder der andern auch noch mehr rein als diese Lügen!

Ihr Rettungsanker, an den sie sich klammern, heißt: „Mit diesem Vertrag schaffen wir vielleicht, den Zeitplan für eine Rosensteinbebauung um 5 Jahre nach vorn zu ziehen“ – falls der Tiefbahnhof tatsächlich Ende 2025 fertig wäre, was kein Mensch ernsthaft annehmen kann. Es sei denn, er gehört zu denen, die auch glauben, dass ein Zitronenfalter jemand ist, der Zitronen faltet. Oder zu den Beraterfirmen, die gegen hohes Honorar jedes Phantomgebäude vermarkten.

Und wie wenig die Verhandler selber daran glauben, zeigt die gestufte Verzugszinsenregelung, die die Stadt mit der Bahn jetzt vertraglich vereinbaren will: die soll Verzugszinsenzahlungen bis 30.6.2029 möglich machen.

Auf das Wesentliche reduziert, ist der Kern des Deals zwischen Stadt und Bahn folgender:

  • Erstens: Die Stadt entlässt die Bahn aus der Verpflichtung, das Gleisvorfeld des Kopfbahnhofs geräumt an die Stadt zu übergeben.

Das übernimmt die Stadt selber und geht dabei voll ins Risiko, weil sie hofft, das ganze Verfahren um diese schon genannten ca. 5 Jahre vorziehen zu können. Niemand weiß aber, was auf die Stadt alles zukommt bei der Untergrundsanierung!

  • Zweitens: die Bahn erstattet der Stadt den kalkulierten Aufwand, den sie laut Vertrag hätte, um das Gleisvorfeld zu räumen, rund 40 Millionen Euro.
  • Drittens: Damit die Bahn sich darauf überhaupt einlässt, wird ihr die Verschleierung der absehbaren nächsten Kostensteigerungen erleichtert: dafür werden die Verzugszinsen reduziert, die die Bahn an die Stadt überweisen müsste. Und welch ein Zufall: bis 2025 läuft das etwa auf diese 40 Mio. hinaus, den die Bahn jetzt an die Stadt überweisen soll!

Schon 2020 bestritt die Bahn ja, dass sie ab Januar 2021 monatlich eine Million Euro Verzugszinsen an die Stadt zu zahlen habe wegen der Ende 2020 nicht übergebenen Flächen. Begründung der Bahn: für die Verzögerungen sei nicht die Bahn verantwortlich. Diese Dreistigkeit muss man erst mal haben.

Dieser Deal soll jetzt noch in dieser Woche durch den Verwaltungsausschuss und den Gemeinderat gepeitscht werden – es ist ein Skandal, dass das ein weiteres Mal hinter verschlossenen Türen stattfinden soll!

Dieser Vertag, liebe Freund*innen, ist super für die Bahn! Er offenbart erstens die miserable Qualität der bisher vom Stadtrat zugestimmten Verträge.

Er verschleiert zweitens die Täuschung der Öffentlichkeit ein weiteres Mal, indem die Schuld für Bau-Verzögerungen bei S21 natur- und artenschutzrechtlichen Auflagen zum Schutz der Eidechsen auf dem Bahngelände zugeschrieben wird – als wären diese nicht schon zur Zeit der Vertragsabschlüsse bekannt gewesen! Und ausgerechnet mit von einem grünen OB eingefädelten Verhandlungen, und einem grünen Baubürgermeister will die Stadt Stuttgart mit diesem Vertag auch noch Rechtsgeschichte schreiben: sie will natur- und artenschutzrechtliche Vorschriften aushebeln, damit im Zweifelsfall der Bagger alles platt fahren darf, damit schneller gebaut werden kann.

Jetzt müssen die Grünen-nahen Verbände wie z.B. der BUND endlich aufhören, sich bei Stuttgart 21 weg zu ducken vor den Parteifreunden im Rathaus und der Landesregierung! Gegen diese Stuttgarter Aushöhlung des Artenschutzes muss mobilisiert und geklagt werden!

Drittens sichert dieser Vertrag nicht einmal die kosmetischen Maßnahmen ab, die die Stadt bisher zur Legitimierung des Bauprojekts zugesagt hatte: Der Vertrag, der jetzt geändert werden soll, überlässt es dann der Stadt, Baudenkmäler auf dem Gleisvorfeld zu erhalten – oder auch nicht!

Die Stadtspitze und die Gemeinderäte bürden unserer Stadtgesellschaft immer weitere unabsehbar teure Maßnahmen auf: ein Gelände, das hundert Jahre Bahn auf dem Buckel hat, ist im Untergrund kontaminiert. Es kostet unfassbare Summen, die Böden dieser Fläche zu sanieren, dass sie wieder eine akzeptable Qualität haben. Auch davon hatte die Stadt die Bahn schon in den Verträgen 2001-2009 befreit, um S21 schön zu rechnen. 14 Millionen sind dafür im Stadthaushalt bereitgestellt, eine lächerliche Summe für 28 Hektar im Gleisvorfeld! Schauen wir nur mal zum Vergleich in die Zuffenhäuser Keltersiedlung, wo die SWSG abbrechen und neu bauen lässt: dort kostet die Sanierung eines einzigen Hektars kontaminiertem Boden mindestens 11 Mio. €!

Und last but not least: Wir und der Gemeinderat haben es diese Woche mit der Änderung von existierenden Verträgen zu tun. Veränderung von Verträgen!

Wie oft haben wir uns in den letzten 10 bis 15 Jahren aus dem Rathaus und dem Landtag anhören müssen: „Eure Alternativen und Veränderungsvorschläge kommen zu spät, denn es gibt ja Verträge, die eingehalten werden müssen“. Das waren die Standard-Mantras, mit denen wurde alles abgebügelt, was nicht gut für den Tunnelwahn und seine Profiteure gewesen wäre, in Anhörungen zur Planfeststellung, im Filderdialog. Und vielleicht erinnern sie sich: auch der Vorschlag meiner Fraktion, das Paketpostamt als Opern-Interim und danach weiter zu nutzen wurde abgebügelt mit der Begründung, dass die Verträge dort eine Parkerweiterung vorschreiben würden.

Und heute? – plant die Stadtverwaltung dort Wohnungsbau… alles nach dem Motto „Was schert mich mein saudomms‘ Gschwätz von gestern“.

Das war und das ist dieser unredliche Umgang der herrschenden Politik mit den Bürgern, dass ganz nach wechselndem Bedarf grundsätzlich veränderbare Verträge für unveränderbar erklärt werden, was engagierte Menschen nur empören kann; diese Verschleierungsmethoden sind es, die die Bürger*innen nur noch abstoßen, und die viele dazu bringen, alles was „Politik“ ist, in einen Sack zu stecken.

Liebe Freund*innen, wir wehren uns gegen diese die Demokratie beschädigenden Methoden, wir stehen mit unserer Bewegung für Klarheit, Wahrheit und Transparenz im politischen Diskurs, für eine Selbstkorrekturfähigkeit von Politik, denn wer A sagt, muss nicht B sagen, wenn er erkannt hat, dass A falsch war. Und deshalb sagen wir: Nein zu diesen Vertragsänderungen! Lasst das Phantomviertel Rosenstein dort, wo es heute schon ist: in den feuchten Träumen der Investoren.

Baustopp, innehalten, nachdenken, den Umstieg endlich ernsthaft diskutieren und ins Auge fassen – und für uns heißt das: zusammen OBEN BLEIBEN, die nächsten Wochen erst mal wieder um 18.00 auf OBEN-BLEIBEN-TV, und danach wieder auf der Straße!

Ich freu mich schon auf’s Wiedersehen! Danke für die Aufmerksamkeit!

Rede von Tom Adler als pdf-Datei

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