Nachspiel zur „Tunneltaufe“ – Einstellung eines Bußgeldverfahrens

 Solidarität

Bericht über Gerichtsverhandlung am Amtsgericht am Freitag, 16.5.2014

Sachverhalt:
Am 4. Dezember 2013 hatte in Stuttgart-Wangen die erste  „Tunneltaufe“ auf Stuttgarter Stadtgebiet statt gefunden, gefeiert von 250 Gästen aus Politik und Wirtschaft. Entsprechend groß war die Empörung unter den Gegnern von S21 gewesen und mit ca. 400  DemonstrantInnen gab es einen eindrucksvollen Protest.

Die Arroganz der Tunnelbetreiber, gepaart mit göttlichem Segen, hatte auch Annelies H. an jenem Tag „auf die Palme“ gebracht bzw. auf die Ulmer Straße nahe des „Segnungsgeländes“.
Die DemonstrantInnen hatten sich in drei Gruppen aufgeteilt: Eine mit Bannern direkt vor dem Eingang zu den Zelten mit den Honoratioren, eine Gruppe auf dem von der Ordnungsbehörde vorgesehenen Demonstrationsplatz und eine Gruppe auf der Ulmer Straße.

Die 73-jährige Rentnerin Annelies H.  wollte während der Demonstration von einer Seite der Ulmer Straße direkt zur anderen Seite wechseln, wobei die Stadtbahngleise zu überschreiten waren, wollte man keinen Umweg an der Ampel machen. Viele andere DemonstrantInnen machten es genauso.

Polizeihauptkommissar U. beobachtete die Gruppe dabei, rief ihr hinter, doch im Trubel von Pfeifen, Tröten und dem üblichen Demonstrationslärm hörte Annelies H. nichts. Auch einen männlichen Demonstranten wollte Herr U. von der Überquerung der Gleise abhalten. Da beide als Letzte der Gruppe sich nicht so zügig bewegten, konnte Herr U. sie ansprechen und ihre Personalien feststellen.

Zum Verfahren:
Annelies H. bekam im Februar dieses Jahres einen Bußgeldbescheid über 100 Euro für die Ordnungswidrigkeit, dass sie „…die Betriebsanlage der Stuttgarter SSB als Fußgängerin unberechtigt betreten“ habe. Dagegen legte sie Widerspruch ein, so dass es nun am vergangenen Freitag zu einer Verhandlung am Amtsgericht kam.

Richterin R.-B. hatte den Fall auf dem Tisch und es geschah etwas, das man bisher bei S21-Verfahren (im weitesten Sinne) nicht erlebt hat:  R.-B. hatte die Akten gelesen und sich für den Fall interessiert. Sie stellte die Frage, wie viele Demonstranten sich bei dieser personenmäßig so großen Demonstration „auffällig“ benommen hatten und bei der Bußgeldbehörde gemeldet worden waren. Sie rief also bei der Bußgeldbehörde an und erhielt die Antwort, dass nur eine einzige Person einen Bußgeldbescheid erhalten habe. Es hatte Annelies H. getroffen.

Sollte es nicht immer so sein, dass sich gemäß StPO § 160 (Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung) die Ermittlungsbehörden auch um entlastendes Material kümmern? Denn § 160.2 besagt. "Die Staatsanwaltschaft hat nicht nur die zur Belastung, sondern auch die zur Entlastung dienenden Umstände zu ermitteln ... ".
(Anmerkung 1: Lt. Aussage eines Anwalts ist dieser Paragraph der Strafprozessordnung der am meisten missachtete, d.h. nicht beachtete.)

Nun handelte es sich ja bei der Ordnungswidrigkeit von Annelies H. nicht um eine Straftat, doch waren auch hier die Hintergrundinformationen nicht uninteressant. Dank der Nachfrage von Richter R.-B. zeigte sich, dass Annelies H. nicht nur die einzige Beschuldigte war, sondern auch, dass der lt. Polizei-HM U. von ihm personalienmäßig festgestellte männliche Demonstrant nicht den Weg in die Akten gefunden hatte.

Richterin R.-B. stufte den Vorgang als fragwürdig ein, denn „... es ist nicht ersichtlich, warum Sie als Einzige einen Bußgeldbescheid bekommen haben“, sagte sie zu der Beschuldigten.
Um diese Aussage zu unterstützen bzw. zu bekräftigen, hoben sogleich dreiviertel der anwesenden Zuschauer den Finger und riefen: „Ich bin auch über die Gleise gelaufen!“ Und als sich dann auch noch der Anwalt als „Gleisüberquerer“ outete, musste selbst die Richterin mit den Zuhörern lachen.
(Anmerkung 2: Lachen im Gerichtssaal hat eine befreiende, beiden Seiten zugute kommende Wirkung und sollte nicht grundsätzlich die Androhung einer Ordnungsstrafe zur Folge haben,  sondern als unkonventioneller Beitrag zum „Finden der Wahrheit“ toleriert werden.)

Richterin R.-B. war bereit, das Verfahren einzustellen, doch wollte sie – um ganz sicher zu sein – zuvor die zwei geladenen Polizisten als Zeugen hören. PHM U. schilderte somit den eingangs zitierten Sachverhalt und meinte, dass der von der Behörde zugewiesene Versammlungsort von den Demonstranten „nicht angenommen“ worden sei.
(Anmerkung 3: In der Tat handelte es sich hierbei um einen Fußweg, der völlig unzureichend war für die Menge der Demonstranten.)

Die Beschuldigte H. fragte den Polizisten, warum ausgerechnet sie aus der Menge der Gleisüberquerer herausgepickt worden sei. „Ich habe Ihr Rufen nicht gehört, es war viel zu laut. Es sind so viele Leute über die Gleise gegangen. War ich eine leichte Beute, weil ich so langsam war?“ Dies wies PHM U. zurück und meinte: „Ich war allein, ich konnte nicht acht Leute gleichzeitig festnehmen.“  Und die Richterin fügte beschwichtigend hinzu: „Sie dürfen das nicht persönlich nehmen.“ Sie verzichtete dann auf die Vernehmung des zweiten geladenen Polizisten und schlug vor: „Wenn Sie einverstanden sind, wird das Verfahren nach § 47.2 eingestellt. Die Kosten übernimmt die Staatskasse."
(Anmerkung 4: § 47 des Ordnungswidrigkeitengesetzes befasst sich mit der Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten. Absatz 2 besagt: Ist das Verfahren bei Gericht anhängig und hält dieses eine Ahndung nicht für geboten, so kann es das Verfahren mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft in jeder Lage einstellen. Die Zustimmung ist nicht erforderlich, wenn durch den Bußgeldbescheid eine Geldbuße bis zu einhundert Euro verhängt worden ist und die Staatsanwaltschaft erklärt hat, sie nehme an der Hauptverhandlung nicht teil... )

Dem stimmten die Beschuldigte und ihr Anwalt zu, nicht ohne dass der Anwalt bedauerte: „ ..., und ich hatte mich so gut vorbereitet.“
Auch  Annelies H. konnte nun ihre Schlusserklärung nicht mehr im Gerichtssaal vortragen, sie holte das aber auf dem Flur des Gerichtsgebäudes nach. Hier ist das Schlussplädoyer von Annelies H

 

 

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