Rede von Prof. Dr. Wolfgang Hesse, Mathematiker, Informatiker, Initiative ‚Deutschland-Takt‘, auf der 522. Montagsdemo am 27.7.2020
Liebe Stuttgarter Freund*innen, liebe Oben-Bleiber, liebe Unverzagte und Unentwegte im Kampf gegen Ignoranz und Profitgier,
bald, in einem Vierteljahr, jährt es sich zum zweiten Male: Da verkündete unser (Immer-Noch-)Verkehrsminister Scheuer den Deutschland-Takt: „Der Schienenverkehr soll pünktlicher, schneller, die Anschlüsse sollen direkter und verlässlicher werden.“ (Originalzitat vom Oktober 2018). Nach 21 Monaten und drei Gutachter-Entwürfen mit vielen bunten Zielfahrplänen wissen wir mehr und alles sieht so aus, dass von unseren schönen Hoffnungen auf eine Wende der deutschen Verkehrs- und Bahnpolitik nicht viel übrig bleiben wird. Schlimmer noch: Der Deutschland-Takt droht zu einem Füllhorn für neue Groß- und Megaprojekte zu werden.
Rekapitulieren wir noch einmal: Was unsere Nachbarn, die fleißigen und bahnaffinen Schweizer vor 30 Jahren geschafft haben, nämlich ihren Bahnverkehr mit dem so genannten „integralen Taktfahrplan“ so zu organisieren und auszubauen, dass man praktisch aus jedem Winkel des Landes per Bahn, Bus und Schiff direkt oder mit guten Anschlüssen überall hinkommen kann, das sollte nun auch bei uns in den nächsten 10 - 20 Jahren Wirklichkeit werden, so dass wir uns dann wenigstens um 2040 herum – mit 40 - 50 Jahren Verspätung – an Schweizer Verhältnissen erfreuen könnten.
So war’s versprochen. Doch vor den Preis haben die Götter den Schweiß gesetzt – und in dem droht der ganze schöne D-Takt-Aufbruch zu ertrinken. Studiert man die Entwürfe und Zielfahrpläne genauer – beim letzten Entwurf vom Juni 2020 ist die Tinte gerade erst getrocknet – so zeichnen sich drei Tendenzen deutlich ab:
- Erstens stecken die Entwürfe voller Nebelkerzen – das heißt: sie weisen jede Menge „Trassen“ aus, von denen noch keineswegs klar ist, ob auf diesen Trassen jemals auch echte, konkrete Züge verkehren werden. Das gilt besonders für die vielen versprochenen Halbstunden-Takte. Die sollen die oft miserablen Umsteigezeiten geschickt kaschieren. Wenn aber abends, am Wochenende oder aus anderen Gründen (z.B. Corona-bedingt oder schlicht aus Geldmangel) nur noch der stündliche oder gar 2-stündliche Grundtakt gefahren werden kann, dann wird aus erträglichen 15 Minuten Wartezeit doch wieder eine dreiviertel Stunde oder gar noch eine Stunde mehr.
- Zweitens sind da die – ich nenne es mal: „Neulasten“ – im Bauprogramm. Hat man früher viel Beton für Hochgeschwindigkeits-Strecken in die Landschaft gegossen, die zu keinem vernünftigen Fahrplan passen (das sind die „Altlasten“, zu denen ich gleich noch komme), will man nun zukünftig die Zielfahrpläne als willkommene Argumentationshilfe missbrauchen. So muss dann der Deutschlandtakt für noch wildere und teurere Beton-Rennstrecken herhalten – die Herren Züblin und Herrenknecht werden es zu danken wissen. Da soll man z.B. in Zukunft in 30 Minuten von Hannover nach Bielefeld, von Nürnberg nach Würzburg oder eben von Stuttgart nach Ulm rauschen – obwohl der Aufwand dafür exponentiell steigt und man die (Pseudo-) Anschlüsse dann höchstens per Turnschuh-Sprint oder gar nicht erreicht. Knapp daneben – das weiß jeder Jäger und Fußballspieler – ist ganz daneben: Ziel verfehlt!
- Drittens kommen wir dann schließlich zu den Altlasten: Da werden z.B. gut funktionierende Fahrplanknoten wie Nürnberg oder Leipzig geopfert, um einer fehlgeplanten Hochleistungs-trasse über Erfurt doch noch nachträglich die Deutschland-Takt-Absolution zu erteilen. Die endlos wartenden Fahrgäste am Bahnsteig in Leipzig oder Nürnberg sollen dafür büßen.