Rede von Joe Bauer, Kolumnist und Stadtflaneur, auf der Samstagsdemo am 16.7.2016
Schönen guten Tag, verehrte Protest-Gesellschaft von Stuttgart,
es ist höchste Zeit, wieder hier zu sein, in dieser erregenden Umgebung: gleich in unserer Nachbarschaft der Landtag, links von Ihnen, meine Damen und Herren, das typisch demokratische Wahrzeichen der Macht, ein feudalistisches Schloss, in dem unter anderem das Finanzministerium residiert. Diese Herrschaften dort könnten uns sicher erklären, was zehn Milliarden Euro bedeuten: Zehn Milliarden sind zehntausend Millionen Euro. Das ist die gegenwärtige Summe, die das Immobilienunternehmen Stuttgart 21 verschlingen soll. Und bei dieser Rechnung ist nach oben noch weit mehr Luft als im gesamten total feinverstaubten Kessel.
Unter zehntausend Millionen Euro kann sich kein Mensch etwas vorstellen, der Monat für Monat schauen muss, wie er in dieser Stadt der Spekulanten noch seine Wohnung bezahlen soll – sofern er eine gefunden hat. Diese Summe mit ihren zehn Nullen muss jedem halbwegs geerdeten Menschen inzwischen derart abstrakt vorkommen, dass er sie nicht mehr realisieren kann. Und die Politiker und die Bahnmanager, die diese Kohle verschieben, spekulieren genau damit: Irgendwann wird es den Menschen schon wurscht sein, ob es um zehn oder zwanzig Milliarden oder um eine Billion geht. Solche Größenordnungen, denken die Herrschaften, gehen ohnehin über den Horizont der meisten Bürgerinnen und Bürger. Und genau deshalb stehen wir, liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter, heute auf dem Schlossplatz. Damit die Lobbyisten und die Profiteure von Stuttgart 21 merken, dass sie uns nicht für dumm verkaufen können. Und dass nicht alle schweigen – oder auf dem Fischmarkt sind.
Damit bin ich bei einem wichtigen Thema. Immer bei Protesten taucht irgendwann die Floskel auf: „Das bringt doch eh nix.“ Dies ist der Satz der Sofa-Sitzer. Diese Leute haben wohl nie darüber nachgedacht, dass all das, was wir hier und heute machen, früher mal mit Widerstand und Protest erkämpft werden musste: In diesem Bewusstsein nehmen wir auf diesem Schlossplatz unser Versammlungsrecht und unser Recht auf Meinungsfreiheit wahr. Wir zeigen, dass es immer noch möglich ist, auf die herrschende Politik zu reagieren und gegen die ungerechten Verhältnisse im Land zu demonstrieren.
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